In Ungarn gibt es etwa 4.000 bekannte und zum größten Teil erkundete Höhlen. Viele davon sind eine Attraktion für Ausflügler, aber auch erfahrene Höhlenkletterer kommen auf ihre Kosten. Bei allem Spaß am Erkunden kommt es hin und wieder zu Unfällen. Doch wie können Verletzte aus den engen Gängen und schwer zugänglichen Höhlen geborgen werden? Ricsi und sein Team des Ungarischen Höhlenrettungsdienstes erklärten der BZ, worauf es ankommt.
„Den Verband des Ungarischen Höhlenrettungsdienstes (Magyar Barlangi Mentőszolgálat) gibt es seit 1961, ich bin seit 1982 dabei” sagt Ricsi. Dem Mann mit dem graumellierten Stoppelbart hört man einfach gern bei seinen Erzählungen zu, denn nach mehr als einem Vierteljahrhundert im Dienst hat er einiges zu erzählen. Seine Aufgabe innerhalb des Verbandes ist es, die operative Arbeit zu leiten. Unter ihm arbeiten unter anderen Pucu, der mit bürgerlichem Namen Zoltán Kiss heißt, und Kagyó (wie auch bei Fahrradkurieren rufen sich Höhlenkletterer nur mit Spitznamen – Anm.). Beide sind erfahrene Kletterer, Pucu ist seit sieben Jahren im Dienst, wobei die ersten zwei Jahre Probezeit waren. Diese ist deswegen so lang, weil man erstens an einer Mindestanzahl an Rettungen teilnehmen und sich außerdem auch herausstellen muss, ob man als Mitglied des Teams funktioniert. „Wir haben auch Fälle erlebt, in denen Anwärter noch während der Probezeit gesagt haben, das sei nichts für sie”, erklärt Pucu. Andersherum, also dass der Verband dankend ablehnt, wäre dies zwar selten der Fall, sei aber vorgekommen. Doch wer wird Mitglied und was geht damit einher?
Hohe Standards und tiefe Schluchten
„Wir sind alle durch die Bank weg erfahrene Höhlenkletterer, das ist Grundvoraussetzung”, sagt Ricsi. Neben der Budapester Zentrale gibt es auch im südungarischen Pécs und in der Nähe der nordungarischen Stadt Miskolc Rettungsdienste. Je nachdem, woher der Notruf eingeht, werden die Retter vom Einsatzleiter per SMS benachrichtigt. Dabei können Notrufe nicht nur von in Not Geratenen direkt beim Retugnsdienst abgesetzt werden. Gelegentlich bittet auch die Feuerwehr um Hilfe, um Verletzte aus schwer zugänglichen Situationen zu bergen. Kagyó, der seit 1998 im Rettungsdienst tätig ist, weiß, dass der Großteil der Einsätze in den vergangenen Jahren vor allem überirdisch, also keinesfalls in Höhlen selbst stattfanden: „Wir reden hier vor allem von Schluchten und Situationen, die die regulären Rettungskräfte vor Schwierigkeiten stellen. In eine Schlucht beispielsweise können Feuerwehrmänner sich vielleicht noch abseilen, aber um einen Verletzten fachgerecht zu bergen, braucht es einfach spezielle Ausrüstung.” Theoretisch würde dies zwar noch in den Aufgabenbereich des Katastrophenschutzes fallen, „aber zum Glück weiß man sowohl dort als auch bei der Feuerwehr mittlerweile um unsere Professionalität und ruft uns in solchen Fällen zur Hilfe.” Pucu ergänzt: „Vergangenes Jahr hatten wir einen Einsatz an der Rám Schlucht im Norden Budapests im Pilis Gebirge. Viele Leute haben sich gefragt, warum denn bitte Höhlenretter dort zum Einsatz kommen. Ganz einfach: Eine Schlucht unterscheidet sich lediglich darin von einer Höhle, dass sie nach oben offen ist.” Es ist eng, rundherum gibt es nur Stein und wenn die Rettung nachts stattfindet ist es ebenso dunkel wie in einer Höhle. Ricsi betont, dass es keinesfalls um eine Konkurrenz zu anderen Rettungskräften geht, sondern immer das Wohl des Verletzten im Vordergrund steht: „Unsere Ausrüstung ist eben darauf ausgelegt, Menschen aus schwierigen Situationen zu bergen. Wir arbeiten beispielsweise mit einer Spezialtrage, auf der wir den Verletzten sicher festschnallen können, dass er selbst mit dem Gesicht nach unten transportierbar ist, ohne sich zu bewegen.”
Doch zurück zum Ablauf des Einsatzes: Nach Eingang des Notrufs werden alle Retter per SMS benachrichtigt. Wer kann, kommt zum Lager oder zum Einsatzort direkt, wobei eine Rettung etwa 15 Kletterer erfordert. „Viele fragen, warum wir mit so vielen Rettern anrücken. Natürlich könnte man auch heroische Kämpfe rund um die Trage mit vier Leuten verwirklichen, aber das ist vollkommen überflüssig.” Dabei, weiß Kagyó, muss selbst in der für Touristen einfach begehbaren Mátyáshegyi Höhle die Trage bei einer Rettung nicht nur horizontal sondern auch vertikal befördert werden. Deswegen muss der Weg des Verletzten aus der Höhle hinaus gut vorbereitet sein, inklusive ausgebautem Seilsystem. Doch bevor es überhaupt an den Transport des Verletzten gehen kann, muss ein Arzt konsultiert werden. Ricsi weiß, dass es oberste Priorität hat, einen Arzt zum Verletzten zu bringen, auch deswegen ist es wichtig, dass die Ungarischen Höhlenretter mehr als zehn Ärzte in Bereitschaft haben, die selbst aktive Höhlenkletterer sind, „und erst nachdem der Arzt sein okay gegeben hat, kommt die Trage zum Einsatz”. Früher ist es häufiger vorgekommen, dass man reguläre Notärzte ohne Klettererfahrung in die Höhle zum Verletzten geleiten musste, „das ist aber sehr ungünstig, weil erstens dann mehrere Retter allein damit beschäftigt sind, den Arzt sicher zum Patienten zu bringen und zweitens auch der Arzt selbst noch einem gewissen Verletzungsrisiko ausgesetzt ist”. Dahingegen, betont Ricsi, sind Kletterer-Ärzte sicher in der Höhle unterwegs und die Retter können sich so noch intensiver mit dem Verletzten beschäftigen.
Am Einsatzort angekommen verteilt der Einsatzleiter die verschiedenen Aufgaben, angefangen vom Ausbau der Seilsysteme bishin zu wer die Trage trägt. Dabei ist Umsicht gefragt, denn der „Ausbau der Höhle”, wie es im Fachjargon heißt, muss so geschehen, dass der Weg zurück so einfach und sicher wie möglich zu bewältigen ist, denn „auch die Retter selbst dürfen sich während einer Rettung nicht in Gefahr bringen”, so Kagyó. Sind die Retter beim Verletzen angekommen, gilt es, sich einen Überblick über dessen Zustand zu verschaffen, um den Rückweg zu planen. Ist der Verletzte transportfähig? Braucht er Versorgung direkt vor Ort? Worauf müssen sich die Rettungskräfte außerhalb der Höhle vorbereiten? Technik ist hier entscheidend, und so wird bei Rettungen in wenig bekannten Höhlen, die besonders schwer zugänglich sind oder bei Verletzungen, die eine pausenlose Kommunikation mit der Oberfläche erfordern, auch eine Telefonleitung hinunter in die Höhle gezogen. „Daneben ist auch die ärztliche Ausrüstung wichtig. Wir gehen mit solcher Ausstattung runter in die Höhle, dass kleinere Eingriffe vor Ort durchgeführt werden können, ähnlich einem gut ausgerüsteten Rettungswagen”, erklärt Ricsi, wobei es auch hier gilt, dem Arzt so viel Zeit für den Patienten zu geben wie möglich, weswegen er seine Notfallausrüstung nicht selbst trägt. In der Höhle selbst können die Retter gegebenenfalls dem Arzt auch unter die Arme greifen. Pucu beispielsweise hat vor einigen Jahren einen Kurs belegt, der ihn befähigt, Infusionen zu legen und der ihm grundsätzliche medizinische Kenntnisse vermittelt hat. Kann der Verletzte transportiert werden, beginnt die eigentliche Rettung. Generell wird die Trage von vier Rettern bewegt, aber gerade in Höhlen gibt es enge Abschnitte, in denen der Transport zu Fuß schlicht nicht möglich ist. Hier wird die Trage dann von Mann zu Mann gereicht: „Es gibt Abschnitte, die sind so eng, dass das Gesicht des Verletzten knapp einen Zentimeter von der Wand entfernt ist während des Transports. Diese Abscnhitte müssen wir so überbrücken, dass wir die gesamte Länge abdecken, denn aneinander vorbei passen wir nicht.” Ist der Verletzte an der Oberfläche angekommen, ist die Rettung noch immer nicht beendet. Kagyó erinnnert sich: „Wir hatten einen Fall, bei dem wir einen Verletzten mit Wirbelsäulenverletzung bergen mussten. An der Oberfläche angekommen wartete ein Jeep auf uns, der den Verletzten ins Krankenhaus transportieren sollte. Unser Arzt entschied aber, dass dies zu gefährlich sei in Anbetracht der Verletzung. Also haben wir die Trage zwei Kilometer weiter getragen, bis wir zu einer asphaltierten Straße kamen und der Verletzte sicher weiter transportiert werden konnte.”
Retter aus Leidenschaft
Nachdem viele der gefährlicheren Höhlen für die Öffentlichkeit unzugänglich gemacht wurden, ist die Zahl der Einsätze auf jährlich etwa fünf zurückgegangen. Doch trotzdem halten sich die Höhlenretter mit Vorträgen und Übungen auf dem Laufenden und allzeit bereit, denn der Anspruch an sich selbst ist hoch: „Wen wir lebend fanden, haben wir auch immer lebend herausgebracht“, sagt Pucu. Gelegentlich würden sie auch zur Bergung von Leichen gerufen, doch ins Ungewisse gehen sie nie. Und dann gibt es da noch diese Momente, die den erfahrenen Rettern ein Lächeln ins Gesicht zaubern, wie beispielsweise der Fall, als zwei Kinder als vermisst gemeldet wurden. Die Eltern riefen den Rettungsdienst an, weil sie sich sicher waren, dass die Kleinen sich in einer Höhle verlaufen hatten. Tatsächlich fanden die Retter auch zwei Kinder, aber, wie sich herausstellte, gehörte nur das eine Kind zu den Eltern. Da stellte sich heraus, dass die Kleinen zu dritt in die Höhle gegangen waren. Also hieß es noch eine Runde suchen, „aber zum Glück haben wir auch den letzten Ausreißer entdeckt“, lacht Ricsi.
Die Höhlenretter arbeiten als Freiwillige, der Verband ist auf Förderer und Spenden angewiesen. Wer die Arbeit der ungarischen Höhlenretter unterstützen möchte, kann dies entweder mit der 1%-Spende der Einkommensteuer oder per Spende an den Verband direkt tun.
Steuernummer für Einkommensteuer: 18005598-2-41
Kontonummer für Direktspenden: 16200137-00187628 (MagNet Bank)
Mehr Informationen zum Verband Ungarischer Höhlenretter unter