Katja Petrowskaja und Zoltán Halasi haben etwas Himmelschreiendes zum Thema ihrer jüngsten Bücher gemacht: den Holocaust. Unter dem Motto „Vergessen, verleugnen, erinnern“ haben sie am 18. März im Budapester Goethe-Institut gelesen. Und miteinander diskutiert – über das moralische Überschreiten unsichtbarer Schreib-Tabus, die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion und nicht zuletzt über die Sehnsucht nach weiten Identitätsvorstellungen in der heutigen Welt.
Zwei Autoren unterschiedlicher Herkunft, in zwei unterschiedlichen Sprachen schreibend – Katja Petrowskaja und Zoltán Halasi. Beide sind für ihre Bücher viel gereist, sie haben beide rund sechs Jahre lang daran gesessen. „Ich bin eher zufällig jüdisch“, sagt Katja Petrowskaja während der gemeinsamen Lesung im Goethe-Institut. Und verhaspelt sich ganz kurz in ihren selbst geschriebenen Wörtern, bevor sie dem gebannten Publikum weiter vorliest. Die Autorin schreibt auf Deutsch. Ihre Muttersprache ist Russisch. Sie ist in der Ukraine aufgewachsen, damals mit dem Bewusstsein einer „Sowjetbürgerin“, wie sie sagt. Noch etwas? Achja, ihre jüdischen „Wurzeln“ habe sie erst vor Kurzem so richtig entdeckt, und im Übrigen hasse sie das Wort „Wurzeln“. Mit zahlreichen Preisen, wie dem renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis, wurde sie für ihr 2013 veröffentlichtes Werk „Vielleicht Esther“ ausgezeichnet. Trotzdem sagt sie: „Ich bin keine Schriftstellerin!“ Dabei ist der Andrang im Goethe-Institut am 18. März groß, die Stuhlreihen sind bis auf den letzten Platz besetzt.
„Ich bin keine Schriftstellerin!“
In bruchstückhaften Sequenzen begibt sich die 45-jährige Autorin in „Vielleicht Esther“ auf eine Suche nach ihrer persönlichen Familiengeschichte, die sie nach Warschau, Kiew und Berlin führt. Viel Recherchearbeit steckt in dem Buch, denn Katja Petrowskaja hat all diese Orte wirklich besucht, ist in Archive gestiegen und hat Bekannte der Familie von damals um Auskunft gebeten. Das Verblüffende: Je mehr sie meint zu erfahren, desto weniger weiß sie. Viele Fragen bleiben im Raum schweben, aus jeder Einzelnen ergeben sich zwanzig neue. Und das ist in Ordnung, bekräftigt die Autorin. Sowohl im Buch als auch in der Diskussion mit Zoltán Halasi wird deutlich, dass Petrowskaja die absolute Gültigkeit der Geschichtswissenschaft genauso infrage stellt wie eindeutige Identitätsvorstellungen, nach ethnischer Zugehörigkeit sortiert. Letzendlich führe dann aber doch alles zu ihrer eigenen Identität im Hier und Jetzt, fragt Moderator Imre Kurti während der Diskussion. Petrowskaja antwortet: „Auch heute reduzieren wir uns viel zu oft einzig und allein auf das Ethnische. Das hat Hitler erfolgreich in den Köpfen der Menschen hinterlassen.“
Je mehr wir erfahren, desto weniger wissen wir
Sind das provokative Stellungnahmen oder einfach ein anderer Umgang mit Zuschreibungskategorien, in denen unsere vermeintlichen Identitäten verwurzelt sind? Beruf, nationale Zugehörigkeit, Muttersprache, und fertiggebastelt ist das Individuum. Oder? Petrowskaja macht diese Engstirnigkeit wütend. Dagegen schreibt sie an. Und ermöglicht damit einer deutschsprachigen Leserschaft einen sehr persönlichen Zugang zur Massenvernichtung der Juden in Europa. Er basiert weniger auf historischen Fakten als auf bruchstückhaften Erinnerungen mehrerer Familiengenerationen. So kann Geschichte über nationale Grenzen hinweg in die stark vernetzte Gegenwart transportiert werden. Wo historische Fakten nicht weiterkommen, beginnt die Literatur einen europäischen Gedächtnisraum zu entwerfen. Dabei bricht Petrowskaja mit moralischen Tabus. Wie kommt eine „ukrainisch-russisch-jüdische“ Autorin dazu, ihren ersten Roman, der die jüdische Geschichte in Mittel- und Osteuropa thematisiert, ausgerechnet auf Deutsch, der Sprache der Täter, zu schreiben? „Ich schreibe mich damit von meinem persönlichen Bonus frei.“ Damit meint sie die offiziellen Geschichtsauffassungen einzelner Gruppen – den sowjetischen Siegesdiskurs, das unermessliche Leiden des Judentums und die Demutshaltung der Deutschen. „Damit fallen die Opfer- und Täterdimensionen für den Text weg.“
Entgrenzte Erinnerungen, moralisch unbefangen
Der ungarische Schriftsteller Zoltán Halasi hatte bis vor einigen Jahren überhaupt keinen Bezug zum Judentum. Durch Zufall fiel ihm ein Gedicht in jiddischer Sprache in die Hände. Er übersetzte es ins Ungarische, war zutiefst berührt, und begab sich dann auf eine mehrjährige Recherche über die jüdische Geschichte Europas. Seine ernüchternde Erkenntnis nach endlosen Aufenthalten in verstaubten Bibliotheken: „Eine ganze Geschichte ist nicht beschreibbar als Totalität. Das alles rational verstehen zu wollen, bedeutet verrückt zu werden.“ Anders als Petrowskaja fasst er in seinem 2014 veröffentlichten Werk „Út az üres éghez“ (deutsch: Der Weg zum leeren Himmel) nicht die unmögliche Suche nach Fakten in der Gegenwart ins Auge, sondern versucht mit experimentellen Erzählweisen das damalige System darzustellen, in denen die Menschen in der Masse gar nicht verstanden hätten, was vor sich ging.
Experimentelle Erzählweisen
Der 61-Jährige kämpft dabei mit moralischen Tabus, schließlich schreibt er als nicht persönlich Betroffener und noch dazu mit zynischem Unterton über die Nazi-Todesmaschinerie in Polen. Rein fiktiv nimmt er die Innenperspektive verschiedener Figuren ein. In den drei Teilen seines Werkes kommen ein Pole, ein Jude und ein deutscher Verwaltungsleiter des Vernichtungslagers Treblinka zu Wort. Beim Schreiben über den Holocaust befindet sich der Autor in einem Dilemma: „Wie kann ich den Holocaust darstellen, ohne ihn ständig zu wiederholen?“ Eine klare Antwort darauf gibt es nicht, darin sind sich Petrowskaja und Halasi einig. Trotzdem hätten sie kein anderes Thema für ihre Werke wählen wollen.
Ein postmodernes Spiel mit dem Dokumentarischen?
Die Autoren wollen sich mit ihren Werken keinesfalls in klar definierbare Kategorien pressen lassen, denn genau diese Eindeutigkeit in gegenwärtigen Diskussionen prangern sie an. Während der gesamten Diskussion korrigieren sie den Moderator Imre Kurti ständig. Nein, sie seien keine Schriftsteller, auch keine Vertreter einer postmodernen Literatur und hätten auch keinen Roman geschrieben. Dann eine autobiographische Dokumentation? Nein, auch das nicht. „Es ist nicht wichtig, wie man das alles nennt“, erklärt Petrowskaja schließlich. Damit suche der Mensch nach einer totalitären Wahrheit über den Holocaust, die es nicht gebe. Halasi und Petrowskaja experimentieren gerade deshalb mit neuen Erzählweisen, um schier Unerzählbares in Worte fassen zu können. Die schwere Thematik verlange den Autoren einiges ab, aber auch der westliche Leser müsse sich an den speziellen Charakter dieser Literatur gewöhnen. Genau darin liege die heutige Aktualität der Geschichte. Katja Petrowskaja mahnt jedoch: „Sie müssen sich nicht damit befassen. Niemand muss das. Gehen Sie raus und das Leben ist schön.“
„…aber auch der westliche Leser müsse sich an den speziellen Charakter dieser Literatur gewöhnen.“
soso, u der „östliche“ leser, so könnte daraus gefolgert werden, versteht die inhalte so einfach ohne weiteres u vollumfänglich?
danke für den bericht, aber auf diesen satz hätten sie verzichten können/sollen…