Von Péter Techet
Die ungarische Gesellschaft ist autistisch, folglich ist sie auch für politische Waren empfänglich.
Im politischen Leben Ungarns kann man sich allenfalls darüber wundern, dass es noch immer Leute gibt, die sich wundern. Sowohl im rechten als auch im linken Spektrum gab es viele, die sich über die (kürzlich gemachten; Anm.) Behauptungen des Analysten des Politikforschungsinstituts Századvég, Gábor G. Fodor, in der Wochenzeitung Magyar Narancs wunderten, wonach das „bürgerliche Ungarn” durch und durch eine „politische Ware” sei.
Schließlich nehmen wir ja auch nicht für bare Münze, dass jeder Schluck aus einer Flasche „Fanta” das Leben zur Party macht, und wir sollten auch hinsichtlich der Existenz violetter Kühe unsere Zweifel haben. Warum haben dann viele die Mär vom „bürgerlichen Ungarn” geglaubt?
Die Losung des „bürgerlichen Ungarns” war lediglich eine Verpackung. Wie auch der „Freiheitskampf”. Denn auch der Freiheitskampf ist kein Freiheitskampf – denn einen Freiheitskampf ficht man normalerweise nicht gegen einen unbedeutenden, kleinen Politiker der Europäischen Union aus (Daniel Cohn-Bendit), sondern, sagen wir, gegen Angela Merkel, wie es die griechische Regierung tut.
Die ungarische Regierung hat ihre Politik in das Samtpapier des Freiheitskampfes, Antiglobalismus und Antiimperialismus verpackt. Da ein bedeutender Teil der Anhänger der „bürgerlichen Partei“ (Fidesz; Anm.) das Ausland und die dortigen Prozesse und Gegebenheiten nicht kennt, kann man ihnen wirklich verkaufen, dass hier, bitteschön, ein Freiheitskampf tobt. Und sie lassen sich auch willfährig einspannen – es kommt nicht von ungefähr, dass der istrische Schriftsteller Nenad Popovic Ungarn als „autistisch“ bezeichnet hat.
Eine ähnliche Ware war auch das „bürgerliche Ungarn”. Die Wähler des Fidesz glaubten damals (unter der ersten Regierung Orbán, 1998-2002; Anm.) tatsächlich, dass das bürgerliche Ungarn eine Welt ist, in der die Heilige Stephanskrone per Donauschiff kutschiert wird und einige Kinder aus der ungarischen Provinz (die Gründerväter des Fidesz) als „Herr Minister“ angesprochen werden.
Der Fidesz hat sich das Etikett „bürgerlich“ bloß umgehängt
Der Fidesz war niemals eine bürgerliche Partei. Nicht nur deshalb nicht, weil weder die Spitze der Partei noch ihre Mitglieder und Sympathisanten einen bürgerlichen Hintergrund haben, sondern auch deshalb, weil der Fidesz niemals auf ideologischer Basis Politik betrieben hat. Mit der einen oder anderen Rolle konnte sie sich zwar identifizieren – mitunter sogar krampfhaft und dogmatisch –, allerdings ist der viel zu rasche Wechsel der Rollen, wie es im Fall des Fidesz seit jeher zu beobachten ist, nicht gerade der Beweis für feste Überzeugungen.
Nicht zuletzt deshalb ist es lächerlich, wenn die Linke Viktor Orbán heute vorwirft, seine frühere Politik verraten zu haben. Es steht der linken Intelligenz auch nicht gut an, die Rechte zu verlachen, schließlich hat sie seinerzeit die „liberale“ Verpackung des Fidesz ebenso für bare Münze genommen. Orbán hat überhaupt nichts verraten. Liebe ungarische Intelligenz, Sie sind dem Fidesz schlicht und einfach auf den Leim gegangen!
Der Fidesz hat seit jeher vor allem eines zum Inhalt: die Macht oder anders: den Willen zur Macht. Ob dies nun in der Verpackung der liberalen oder bürgerlichen Werte, des Freiheitskampfes oder von Coca Cola daherkommt, ist lediglich Teil des politischen Marketings.
Als Mussolini danach gefragt wurde, was das Programm seiner Partei sei, antwortete er: „an die Macht gelangen“. Nachdem er ans Ruder gekommen war, wurde er nach seinem Regierungsprogramm gefragt, seine Antwort: „an der Macht bleiben“. Mussolini war zu Beginn der zwanziger Jahre binnen weniger Monate imstande, vom Sozialisten zum Kapitalisten und vom Antikleriker zum Kleriker zu mutieren – beim Verständnis der Essenz des Faschismus ist es denn auch überflüssig, den Inhalt dieser Volten zu studieren.
Schließlich läuft diese Politik auf den permanenten Wandel, den Reigen, ja die Inhaltlosigkeit hinaus. Laut Ernst Nolte ist der Faschismus die Überwindung der inhaltlichen Politik. Gerade deshalb ist es töricht, den Faschismus mit dem Nazismus, dem Rassismus oder irgendeinem anderen Inhalt unter einen Hut zu bringen. Der Faschismus ist ein vulgär-nietzscheanischer Voluntarismus oder ein vulgär-schmittianischer Dezisionismus. Demnach handelt die Politik nicht davon, wie wir entscheiden, sondern davon, dass wir entscheiden – irgendwie, es muss nur entschieden werden.
Der Autor ist Publizist. Der hier abgedruckte Text erschien in der Online-Ausgabe der linksliberalen Wochenzeitung hvg.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar