Wo hört Meinungsfreiheit auf? Sollte es erlaubt sein, Religionen in Form von Schrift, Bild oder gesprochenem Wort zu beleidigen oder muss auf die Befindlichkeiten religiöser Gemeinschaften Rücksicht genommen werden, deren Ansichten beispielsweise wie im Islam die bildliche Darstellung ihres Propheten verbieten? In Reaktion auf die tragischen Anschläge auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo diskutierten Buchautor Péter Molnár und Philosophin Ágnes Heller über die Grenzen der Meinungsfreiheit.

Das Buch „The Content and Context of Hate Speech“ gibt einen Überblick über Reglements und Erfahrungen im
Zusammenhang mit Hassreden weltweit. (BZT-Fotos: Nóra Halász)
Dass Meinungs- und Pressefreiheit nicht immer von allen als Segen empfunden werden, ist besonders dann zu spüren, wenn Äußerungen den öffentlichen Frieden gefährden, weil sie gezielt bestimmte Gruppen torpedieren und deren Werteordnung missachten oder gar Hass säen. „Die wohl schwerste Frage in diesem Zusammenhang dürfte sein: Wie kann und soll man Reden, die zum Hass aufstacheln, regulieren?” – diese Frage stellte Péter Molnár in den Raum bei einer Buchvorstellung und Diskussionsrunde zum Thema Meinungsfreiheit am vergangenen Samstag in Budapest. Denn schon was genau solche „Hassreden” sind, ob sie vom Kontext oder dem Inhalt einer Aussage abhängen und wo sich eine klare Linie ziehen lässt zwischen normaler Meinungsäußerung und Verhetzung ist nicht immer leicht zu beantworten.
Molnár nutzte die Chance, sein Buch „The Content and Context of Hate Speech”, das bereits im Juni 2012 im akademischen Cambridge Verlag erschienen ist, erneut vorzustellen. Darin sammelt er gemeinsam mit Co-Autor Michael Herz Essays verschiedener internationaler Experten, die sich intensiv mit den Möglichkeiten der gesellschaftlichen und gesetzlichen Regulation von Hassreden, in der deutschen Gesetzgebung unter dem Begriff der Volksverhetzung geführt, auseinandergesetzt haben.
Hassrede oder Meinungsfreiheit?
Wie sind nun also jene Zeichnungen einzuschätzen, die die Redaktion von Charlie Hebdo zum Opfer religiöser Fanatiker prädestiniert haben? Wenn man Ágnes Heller fragt, dann war das Satiremagazin nicht nur im Rahmen seiner gesetzlichen Möglichkeiten, die Zeichnungen seien auch moralisch zu rechtfertigen. Die ungarische Philosophin und Mitbegründerin der Budapester Schule zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Vertretern der Philosophie. Ihrer Meinung nach hätten die Karikaturen nicht Hass auf den Islam vermitteln, sondern Hass gegenüber Gewalt thematisieren wollen. Denn das zentrale Element der Karikatur seien die dargestellten Gewaltsymbole. Nicht aber habe die Karikatur ihrer Ansicht nach für Hass gegen die Religion selbst oder Millionen von friedfertigen Muslimen geworben.
Allerdings stimmt nicht jeder im Publikum Frau Heller in dieser Aussage zu: „Es sind doch aber nicht nur die Terroristen, die sich durch Karikaturen wie denen in Charlie Hebdo beleidigt fühlen”, sagt eine junge türkische Frau, die sich nicht dadurch besänftigen lassen möchte, dass sich „ganz normale” Muslime doch nicht von derartigen Darstellungen angegriffen fühlen bräuchten.
„Sollen Redakteure sich selbstbeschränken?”

„Es sind Gewalt und Terror, die wir hassen sollen, nicht den Islam“,sagte Ágnes Heller im Zusammenhang mit den Anschlägen auf Charlie Hebdo.
Dies ist eine weitere Frage, die im Verlauf des Abends immer wieder aufkommt. Heller sieht nur bedingt dafür Anlass: „Jeder Mensch hat ein natürliches Gespür dafür, wo die Grenzen des guten Geschmacks überschritten werden.” Auch sie verurteile obszöne Darstellungen des Propheten Mohammed, die keinem anderen Zweck dienen würden, als dieser Religion die Existenzberechtigung abzusprechen. Die Frage bleibt jedoch offen, ob das von Heller genannte „natürliche Gespür” verunsicherten Redakteuren, die sich in der schwierigen Lage befinden zu entscheiden, ob etwas publiziert wird oder nicht, wirklich als Anhaltspunkt dienen kann – wo doch, wie im Falle Charlie Hebdos, Menschenleben davon abhängen könnten. Doch Heller plädiert im Angesicht der Gefahr durch religiösen Fanatismus dafür, Risiken einzugehen und an der Meinungsfreiheit festzuhalten. „Den Fanatikern und Terroristen geht es gar nicht um Inhalte. Auch ohne Provokationen sind wir vor dieser Gefahr nicht sicher.”
Europas Verantwortung

Péter Molnár ist Buchautor und Medienexperte und beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Frage: „Müssen sich Journalisten zunehmend selbst zügeln?“ Foto: BZT / Nóra Halász
Immer wieder betont Heller im Laufe der Diskussion, dass Europa eine besondere Rolle im Zusammenhang des Diskurses über religiösen Fundamentalismus zukäme. „Fundamentalismus und insbesondere Totalitarismus sind eine Erfindung Europas”, erklärt Heller. So seien Strukturen, wie man Sie heute auch beim IS beobachten könne – für Heller religiöser Totalitarismus – zuerst in Form des nationalen Totalitarismus aufgetreten. Geprägt wurde der Begriff erstmals durch den italienischen Journalisten und Politiker Giovanni Amendola um Mussolinis Herrschaftssystem zu beschreiben.
„Europa hat daher die meiste Erfahrung mit totalitären Systemen”, erinnert Heller, selbst zwei totalitäre Systeme durchlebt hat. Als Kind jüdischer Eltern überlebte Heller den nationalsozialistischen Terror in Ungarn, nur um zu Zeiten des Sozialismus aufgrund ihrer kritischen Einstellung gegenüber der kommunistischen Partei verfolgt und zur Auswanderung getrieben zu werden. Dass aus Europas Erfahrung auch eine große Verantwortung erwachse, bestätigte Heller auf Nachfragen der Budapester Zeitung, relativierte jedoch: “Die Verantwortung liegt vor allem darin, dass wir unsere eigene Geschichte nicht vergessen, als Beispiel vorangehen und nicht dieselben Fehler erneut begehen.”
Die Gesprächsrunde mit Ágnes Heller und Péter Molnár hat erneut Probleme der Meinungsfreiheit, thematisiert die knapp zwei Monate nach den Anschlägen in Paris in ganz Europa diskutiert werden – doch wie viele andere Diskussionen der letzten Monate ließ auch diese das Publikum mit mehr offenen Fragen als Antworten zurück.
Katrin Holtz