Die Zweidrittelmehrheit von Fidesz und KDNP im Parlament ist mit der Sonntags-Nachwahl in Veszprém Geschichte. In dem Wahlkreis, über dessen Mandat durch die Berufung von Tibor Navracsics zum EU-Kommissar neu abgestimmt werden musste, hat nach ersten Ergebnissen der Stimmauszählung am späten Sonntagabend der unabhängige Kandidat Zoltán Kész einen klaren Sieg errungen. Der vom linken Lager (MSZP, DK, Együtt) unterstützte, im Wahlkampf jedoch auf seine Unabhängigkeit bedachte Jungpolitiker setzte sich mit rund 43% der abgegebenen Stimmen gegen den vom Fidesz ins Rennen geschickten Vizebürgermeister Lajos Némedi durch, der es auf rund 33% brachte. Andrea Varga-Damm von der Jobbik kam auf 14% der Stimmen, der LMP-Kandidat Ferenc Gerstmár auf knapp 5%. Den gleichen Wahlkreis hatte der frühere Justizminister Tibor Navracsics vor einem Jahr im April noch mühelos mit 47% geholt. Die relativ hohe Wahlbeteiligung von rund 50% war dem Umstand geschuldet, dass die Linken – erfolgreich – von einer entscheidenden Schlacht sprachen, um die Regierungsparteien der Zweidrittelmehrheit im Parlament zu berauben. Der Fidesz versuchte die Bedeutung dieser Zwischenwahl herunterzuspielen, doch manifestiert sich in dem Ergebnis von Veszprém deutlicher als in vorherigen Wahlgängen die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungspolitik.
Trotz aller Erfolge des Fidesz: Ein Wandel steht bevor, der diesem Land gut tun wird, wenn das Miteinanderreden so eine Chance bekommt. Dem Fidesz ist nun seine Unfähigkeit, die Bevölkerung an gesetzgeberischen Prozessen ausreichend zu beteiligen, auf die Füße gefallen. 2/3 Mehrheit ist die Einladung zur Arroganz. In Ungarn und überall.
Eigentlich muss Fidesz dankbar sein, dass die Regierung gezwungnist, auch im Parlament einen echten Dialog zu führen mit allen Parteien. Nur so können überzeugende Beschlüsse gefasst werden. Wenn sich dann die Vorschlage der Regierung durchsetzten- immerhin hat sie ja immer noch die Mehrheit- dann ist das gut für Ungarn und für die Regierung. Órbán sollte sich jetzt auf die Chance konzentrieren, im Konflikt mit Rusland eine ausgleichende Rolle zu spielen. Er kann da viel bewirken und im Nebeneffekt sich wieder mehr Anerekennung bei den europäischen Partnern verschaffen. Das wird sich bei der nachsten Wahl dann auszahlen.
Die Fidesz hat es versäumt, einen Weg zu finden, damit der Abgang von Navracsics nicht zu Neuwahlen führt. Darüber hinaus hat sie sich von den Siegen des Wahljahres 2014 und den Statistiken täuschen lassen. Dies erinnert fatal an den schwachsinnigen Optimismus von 2002. Die Linksparteien haben realisiert, dass sie für viele Unzufriedene nicht wählbar sind und dass jene Unzufriedenen nicht genau wissen, WOFÜR sie sind, aber GEGEN „die da oben“.Deshalb schoben sie einen „Unabhängigen“ und Lokalpatrioten vor, was sich als cleverer Schachzug erwies. Einige Vorwürfe gegen die Regierung sind berechtigt, andere nicht. Ich selbst kenne eine Familie, die zu den Geschädigten der Franken-Kredite gehört. Sie haben das demütigende Gefühl, von Schlaueren reingelegt worden zu sein, fühlen sich als Sündenböcke für die wirtschaftlichen Probleme und sind wütend, dass sie ihre Schulden trotzdem bezahlen müssen. Daher wählten sie, trotz der Rettungsversuche durch die Orbánregierung, links.
Wähler hören auf ihr Bauchgefühl, daran nicht zu denken ist kurzsichtig.
Die Fidesz sollte die Niederlage als Warnschuß vor den Bug betrachten und dankbar dafür sein, dass sie bis zu den nächsten Parlamentswahlen Zeit genug haben, eine neue Strategie zu entwickeln.
„Wähler hören auf ihr Bauchgefühl, daran nicht zu denken ist kurzsichtig.“
und Wähler leiden leider unter dem Vergessensyndrom, denn ansonsten hätten bei den
Wählern sämtliche Alarmglocken schrillen müssen, wenn sie sich an einige Aussagen des „független“ Kanditaten erinnert hätten, welche er im Jahre 2010 von sich gab.Ich gehe allerdings davon aus, dass sie wohl den meisten Bürgern nicht bekannt waren/sind.So kann man nur sagen
Kész..ülhetek auf was auch immer.Besseres sicherlich nicht.
Ich kann Ihnen in keinem Punkt widersprechen. Ich bin das, was man einen ungarischen Patrioten nennen könnte, bin aber auch Realist. Vielen Ungarn geht es schlecht, viele leben unter der Armutsgrenze. Doch der Mehrheit geht es, nach meiner Schätzung, dank sinkender Energiepreise, der gestoppten Inflation und den ausländischen Investitionen in den richtigen Sektoren besser als 2010. Wenn ich ein Zyniker wäre, würde ich sagen, es geht ihnen zu gut. Das fördert das Vergessen und ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit wie bei der Frau des Fischers im deutschen Märchen. Die Ungarn zeigen, dies haben sie mit anderen Völkern gemeinsam, ihre besten Seiten in der Not, da halten sie zusammen, haben Mitgefühl und bringen Opfer. Denken wir an den größten Wendepunkt unserer Geschichte: Als Mátyás 1490 starb, zälte Ungarn zu den europäischen Großmächten, unser Bündnissystem erstreckte sich Deutschland und Italien bis Moskau, das Land war wohlhabend, machte große kulturelle Fortschritte. Nur 36 Jahre später war Ungarn pleite, zerstritten und alle Eroberungen von Mátyás waren verloren. Ein türkischer Freund versicherte mir, dass Sultan Soliman überrscht war, ohne Probleme bis Mohács (damals Zentralungarn) gekommen zu sein und dort weit weniger als 30 000 Verteidiger anzutreffen. Die Türken fürchteten zuerst, in eine Falle geraten zu sein. Mohács und kleinere Katastrophen, wie zum Beispiel die Wahlen von 2002 und 2006, waren selbstverschuldet. Orbán muss also nicht nur an der Wirtschaftsfront kämpfen, sondern auch gegen das Vergessensyndrom.
herr varga, ungarn einmal neu zu denken, stellt eine weitaus grössere herausforderung dar.
diese auch als chance zu begreifen, wird vermutlich erneut die selbstverliebtheit in die eigene geschichte zu verhindern wissen.
danke für ihr negativbeispiel dazu.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie mit Selbstverliebtheit in die eigene Geschichte meinen. Ich liebe Geschichte, weil sie mir Vergnügen bereit, weil sie mir hilft, die Gegenwart zu verstehen und weil jene, die die Fehler der Vergangenheit nicht kennen „dazu verdammt sind, diese zu wiederholen.“
Nie werde ich die deprimierenden Gespräche 1991 vergessen, als mich Leute fragten, warum denn die Jugoslawen auf die jugoslawische Armee schießen. Es war ungeheuer schwer, Leuten ohne Geschichtskenntnisse zu erklären, dass a) es eine jugoslawische Armee gibt, aber keine Jugoslawen b) nicht der Zerfall dieses Staates verwunderlich ist, sondern dass er überhaupt so lange existierte.
Natürlich halten viele Menschen Geschichte für Ballast. Aber Ballast lud man früher auf Schiffe, damit sie nicht im Sturm kentern.