Edit(h) Miklós ist rumänische Staatsbürgerin. Als Angehörige der siebenbürgischen Minderheit der Székler ist sie ethnische Magyarin. Und startete 2011 beim Kombinationsslalom in Garmisch-Partenkirchen in den rot-weiß-grünen Trikolore-Farben ihres Vaterlandes Ungarn. Warum? Die begnadete Schifahrerin war vor der 41. Alpinen Skiweltmeisterschaft von der rumänischen zur ungarischen Nationalmannschaft gewechselt.
Denn Ende 2010 hatte sie als rumänische Staatsbürgerin zusätzlich die ungarische Staatsbürgerschaft erworben. Sie war ihr erteilt worden, nachdem dies die seit den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 im Amt befindliche nationalkonservative Regierung des Viktor Orbán für alle Magyaren ermöglichte, die außerhalb Ungarns leben (müssen). Davon haben bisher mehr als 600.000 Angehörige der in Rumänien, der Slowakei, Serbien, Kroatien und Slowenien beheimateten ungarischen Volksgruppen Gebrauch gemacht. Das sind Nachfahren jener Magyaren, die sich nach der vom Vertrag von Trianon (1920) erzwungenen Amputation von zwei Dritteln des vormaligen ungarischen Territoriums plötzlich in anderen, zum Teil neu entstandenen Nationalstaaten wiederfanden.
Verwässerter Grundsatz
Mit Ausnahme der Slowakei, die selbstverständlich außerhalb des Landes lebenden Angehörigen slowakischer Volksgruppen (in Tschechien, in der Ukraine, in Polen, auch in Ungarn) die ihre erteilt, aber slowakischen Magyaren, die die ungarische annehmen, die slowakische entzieht, hatte keiner der genannten Staaten Einwände gegen die Doppelstaatsbürgerschaft ihrer Staatsbürger. Selbstverständlich erteilt Rumänien ethnischen Rumänen in der Nachbarrepublik Moldova die rumänische Staatsbürgerschaft; ebenso verfährt Serbien mit ethnischen Serben in Kroatien, Bosnien-Hercegovina, Montenegro und selbst im Kosovo; dasselbe gilt für Kroatien und Slowenien. Mit Ausnahme Serbiens sind alle anderen genannten Länder EU-Mitglieder. Nun weiß man zwar, dass in der EU der Grundsatz gilt, wonach Doppelstaatsbürgerschaften tunlichst untersagt bleiben sollen. Doch diese Länder entziehen sich bewusst dem längst verwässerten Grundsatz. Warum? Weil ihn selbst Erstunterzeichner der „Römischen Verträge“, mithin Gründungsmitglieder der EWG/EU wie beispielsweise Deutschland und Italien nicht strikt einhalten. So lässt Berlin seit der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer faktisch Doppelstaatsbürgerschaften sogenannter „Deutsch-Türken“ zu. Und von Italien weiß man, dass es nicht nur ethnische Italiener in Istrien – im slowenischen wie im kroatischen Teil -, sondern auch in Süd- und Nordamerika mit seiner Staatsbürgerschaft beglückt.
Österreich hingegen gibt im Rahmen der EU (und darüber hinaus) in der (Doppel-)Staatsbürgerschaftsfrage den „Grundsatztreuen“ – ansonsten eine eher „unösterreichische“ Haltung. Das erfahren die Nachfahren jener Tiroler zwischen Brenner und Salurner Klause, die sich, wie seinerzeit die Magyaren, aufgrund der für die weitere politische Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts verheerenden Pariser Vororteverträge – für Österreich galt jener von St.Germain-en-Laye – in einem anderen Staat in fremdnationaler Umgebung wiederfanden, nämlich in Italien. Wien hat sämtliche, seit 2006 unternommenen – und vereinzelt aus dem Bundesland Tirol, aber auch aus den Reihen von Natioanlratsabgeordneten heraus unterstützten – Südtiroler Vorstöße bisher abgeschmettert.
„Italien nicht verärgern“
Dabei taten sich besonders ÖVP-Exponenten hervor. Während nämlich sowohl Expertisen aus dem Wiener Bundeskanzleramt (Verfassungsdienst) als auch aus der Jurisprudenz (so beispielsweise des Innsbrucker Rechtswissenschaftlers Walter Obwexer) die unproblematische Zulässigkeit der Erteilung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler untermauerten, trat und tritt besonders das ÖVP-geführte Außenministerium als Bremser auf. Es war nicht nur die Verhaltensweise des vormaligen Außenministers (und ÖVP-Obmanns) Michael Spindelegger, welche die oppositionellen Freiheitlichen veranlasste, die ÖVP der „Komplizenschaft mit Rom gegen Südtirol” zu bezichtigen. Der FPÖ-Nationalratsabgeordnete Neubauer untermauerte diesen Vorwurf einst, indem er sich auf ein persönliches Gespräch mit dem Minister und dessen „verblüffend offene Antwort“ bezog: „Spindelegger erklärte mir unverblümt, dass es für ihn nicht in Frage komme, Italien zu verärgern.“ Das war Anfang 2010. Der damalige Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder verhinderte seinerzeit auch einen zuvor von Politikern seiner SVP – wie den römischen Parlamentariern Siegfried Brugger und Karl Zeller – unterstützten formellen Südtiroler Landtagsbeschluss, wonach Österreich seine „Schutzmachtrolle“ in eine Verfassungspräambel kleiden und den Südtirolern die Staatsbürgerschaft gewähren sollte.
Die Außenamts- und ÖVP-affine Zurückhaltung bis Weigerung in der Doppelstaatsbürgerschaftsfrage fand im Sommer 2013 ihren bisherigen Höhepunkt in der formellen Ablehnung eines diesbezüglichen FPÖ-Antrags im Nationalrat. Darüber hinaus hieß es im „Bericht des Bundesministers für europäische und internationale Angelegenheiten an den Nationalrat betreffend Südtirol Autonomieentwicklung 2009-2013“ unter Punkt „7. Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft für SüdtirolerInnen“: „Die österreichische Bundesregierung ist der Ansicht, dass die Einführung eines vereinfachten Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft für SüdtirolerInnen ohne Niederlassungserfordernis und bei gleichzeitiger Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft mit einer Reihe von völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Hürden sowie praktischen Schwierigkeiten und einem grundlegenden Systemwandel des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts verbunden wäre.“
Mit gezinkten Karten?
Dass offensichtlich nicht nur in Wien, sondern auch in Bozen mit gezinkten Karten gespielt zu werden scheint, ergibt sich aus dem Umstand, dass es zwar seit 2012 einen – auch von der regierenden SVP unterstützten – formellen Landtagsbeschluss pro Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler deutscher und ladinischer Zunge gibt, dass aber nach wie vor aus berufenem Munde die bekannt abweisenden stereotypen Äußerungen kommen. So schloss sich Spindeleggers jugendlicher Nachfolger Sebastian Kurz selbstredend den Vorsichts-Appellen von Durnwalders Nachfolger Arno Kompatscher an, wonach man „bei diesem Thema sehr vorsichtig und behutsam vorgehen [müsse], um nicht mehr Schaden als Nutzen anzurichten”. Kompatscher hatte zuvor gegenüber der Tiroler Tageszeitung geäußert, es bestehe „die Gefahr, dass uns die Debatte mehr schaden könnte, als sie uns Nutzen bringt”, denn es sei bekannt, „dass sich in Wien und Tirol die Begeisterung in Grenzen hält, weil viele Fragen der praktischen Anwendung unklar“ seien.
Eine solche Aussage kann einen langjährigen Beobachter nicht wirklich wundern. Warum? Weil sie der Südtiroler Landeshauptmann wider besseres Wissen tätigt, die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Kompatscher zurecht ins Spiel bringt, doch längst durch Obwexers Gutachten und die (Verfassungsdienst-)Expertise aus dem Wiener Kanzleramt aufgezeigt und geklärt worden sind. Demnach würde die Doppelstaatsbürgerschaft weder gegen den 1919 inkraft getretenen Friedensvertrag, noch gegen die 1946 in Paris zwischen dem damaligen österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide DeGasperi geschlossene Übereinkunft hinsichtlich Südtirols verstoßen, wie dies von offenbar „interessierter Seite“ in geradezu hasenfüßiger Willfährigkeit gegenüber („dem guten Verhältnis“ zu) Italien fälschlicherweise immer mal wieder kolportiert worden ist. Darüber hinaus hat eine vom Südtiroler Heimatbund (SHB) veranlasste, im Januar 2015 in Wien öffentlich vorgestellte repräsentative Umfrage des Linzer Instituts „Spectra“ die hohe Zustimmung der österreichischen Bevölkerung zur möglichen Staatsbürgerschaft der Südtiroler gänzlich außer Zweifel gestellt. Demnach hatten 83 Prozent der Befragten ihr Einverständnis damit bekundet. Mehr als vier Fünftel der Österreicher wären also mit der Erteilung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler einverstanden.
Missachtung des Volkswillens
Das hohe Maß an Zustimmung in allen Altersgruppen legt offen, dass diese spezielle Thematik von Emotionalität geprägt ist. Das Ergebnis sollte politischen Verantwortungsträgern in Wien ebenso wie in Bozen und/oder Innsbruck umso deutlicher vor Augen stehen und sie zum Handeln bewegen, als es sich bei der Staatsbürgerschaft für Südtiroler ja nicht um eine ökonomisch motivierte Angelegenheit handelt, sondern vorrangig um das Begehren einer ideellen Sache, die zugleich nahezu kollektiver Ausdruck des Bewusstseins nationaler Zusammengehörigkeit ist. Namentlich die österreichische Bundespolitik, die in der seit 2006 virulenten Thematik besonders im Juli 2013 die stärkste Bremswirkung erzeugt hat, als SPÖ, ÖVP und Grüne, die in der Ausschussarbeit zuvor Zustimmung signalisierten, den entsprechenden Antrag der FPÖ abschmetterten, hinkt dabei dem Empfinden und der Haltung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung nach. Anders ausgedrückt: sie missachtet eklatant deren Willen.
Das ist nicht neu, aber doch befremdlich. Dabei wäre es für die Schi-Nation doch alles andere als abträglich, wenn, wie die eingangs erwähnte Széklerin Edit Miklós für Ungarn, beispielsweise der Südtiroler Christof Innerhofer unter österreichischer Flagge an den Start gehen könnte.