Der namhafte Philosoph Gáspár Miklós Tamás wandelte die Koseform der Deutschen für Kanzlerin Angela Merkel, „Mutti“, auf „tánti“, sprich „Tante“, ab. Die „Tante der Ungarn“ stattete Budapest am Montag dieser Woche einen Besuch ab.
Merkel hatte sich zunächst mit Ministerpräsident Viktor Orbán zu Gesprächen im ungarischen Parlament getroffen, worauf sie sich mit Vertretern der deutschen Wirtschaft und kurz danach mit Staatsoberhaupt János Áder traf. Später führte ihr Weg zur deutschsprachigen Andrássy Universität, wo sie den Studenten Rede und Antwort stand und den Ehrendoktortitel der Universität Szeged entgegennehmen durfte. Letzter Programmpunkt ihrer Visite war ein Besuch der Großen Synagoge und ein Treffen mit Vertretern der jüdischen Gemeinschaft in Ungarn.
Nach den Gesprächen zwischen den beiden Regierungschefs hielten Merkel und Orbán eine gemeinsame Pressekonferenz ab. Orbán, der zuerst sprach, erklärte, dass Deutschland ein „untrennbarer Teil“ der ungarischen Geschichte sei, die wirtschaftliche Zusammenarbeit der vergangenen Jahre wiederum sei ein Beweis dafür, dass Deutschland ein Teil der ungarischen Gegenwart sei und auch ein Teil der Zukunft des Landes sein werde.
Der ungarische Premier betonte, die in Ungarn lebenden Deutschen trügen in hohem Maße dazu bei, dass das ungarische Volk die Deutschen nicht nur achtet, sondern auch mag. Orbán zollte diesbezüglich auch der deutschen Kanzlerin Respekt. Wie er sagte, sei sie die höchste und wichtigste Repräsentantin der europäischen Einheit.
„Ungarn hat einen langen Weg zurückgelegt“
Er erinnerte an seinen ersten offiziellen Besuch in Berlin nach dem Wahlsieg der Regierungspartei Fidesz bei den Parlamentswahlen 2010. Merkel habe damals gesagt, es sei wichtig, dass alle Länder ihre „Hausaufgaben“ erledigen. „Ungarn hat seither einen langen Weg zurückgelegt“, betonte Orbán. Dieser Weg habe aus einer tiefen Krise zu einer auf Arbeit basierenden Wirtschaft geführt. Der Premier untermauerte die positive Entwicklung Ungarns seit 2010 auch mit Zahlen.
Er verwies darauf, dass die ungarische Wirtschaft im Vorjahr zu jenen europäischen Volkswirtschaften gehört habe, die am schnellsten gewachsen seien. Der Haushalt des Landes wiederum sei gemessen an europäischen Maßstäben vorbildlich. Er erwähnte schließlich die Beschäftigung, die im Vorjahr so hoch gewesen sei wie seit 22 Jahren nicht mehr.
Orbán zu Merkel: „Danke Deutschland!“
Dieser Beschäftigungsrekord, so Orbán, sei nicht zuletzt den rund 6.000 deutschen Unternehmen zu verdanken, die in Ungarn etwa 300.000 Menschen Arbeit gäben. Allein seit 2010 hätten deutsche Firmen ungefähr sechs Milliarden Euro in Ungarn investiert. 25 Prozent der ausländischen Investitionen im Land seien deutscher Provenienz, überdies gehe 25 Prozent des ungarischen Außenhandels nach Deutschland. An Merkel gerichtet sagte Orbán: „Danke Deutschland!“
Im Hinblick auf eine mögliche „eurasische Wirtschaftskooperation“, sagte Orbán: Er könne sich weder in strategischer noch in historischer Hinsicht eine Europäische Union vorstellen, die nicht auf die Energieträger und Rohstoffe Russlands zurückgreift. Deshalb sei der Vorstoß der deutschen Kanzlerin von ungarischer Seite zu begrüßen. Eine eurasische Wirtschaftskooperation käme nicht nur den Interessen Ungarns, sondern auch jenen der EU zugute, sagte Orbán.
„Ungarn ist auf russisches Gas angewiesen“
Was die Energieabhängigkeit von Russland angeht, machte der ungarische Ministerpräsident darauf aufmerksam, dass die ungarische Industrie und die ungarischen Haushalte von Gas abhängig seien, deshalb sei Ungarn den Gaslieferungen aus Russland ungleich stärker ausgeliefert als Deutschland, sagte er.
Orbán erklärte, dass ein zwischen Ungarn und Russland geschlossener Gasliefervertrag mit langer Lauffrist in diesem Jahr auslaufe. Weil Ungarn seinen Gasbedarf fast ausschließlich aus Russland beziehe, sei die jetzige Situation ein „Problem“. Dieses müsste in der ersten Jahreshälfte gelöst werden, ansonsten stünden die ungarischen Haushalte und die ungarische Industrie ohne Wärme- und Energieversorgung da.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von der Wichtigkeit eines gesellschaftlichen Dialogs. An die Adresse von Orbán gerichtet sagte sie bei der gemeinsamen Pressekonferenz, dass die ungarische Regierung zwar eine große Mehrheit habe, gleichwohl sollte auch die Rolle der Opposition, der Zivilgesellschaft und der Medien gewürdigt werden. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt und das militärische Engagement Russlands redete sie einer Diversifizierung der Energie versorgung das Wort. Sie sagte, dass Europas Ziel eine berechenbare und verlässliche Energieversorgung sei.
Merkel kann mit „illiberal“ nichts anfangen
Auf die Frage eines Journalisten, was sie von einer „illiberalen Demokratie“ halte, antwortete Merkel, dass sie mit dem Wort „illiberal“ im Zusammenhang mit der Demokratie nichts anfangen könne. Zur Erinnerung: Orbán hatte bei einer Rede im rumänischen Baile Tusnad (Bad Tuschnad) von den Vorzügen einer „illiberalen Demokratie“ gesprochen (27. Juli 2014).
Der ungarische Premier sagte jetzt dazu: „Nicht jede Demokratie muss zwangsläufig liberal sein, und wenn jemand behauptet, dass die Demokratie zwangsläufig liberal ist, dann stattet er ein Ideensystem mit einem Privileg aus, das diesem nicht zusteht.“
Über die deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen sagte Merkel, dass die makrowirtschaftliche Entwicklung Ungarns Grund zur Freude bereite, wobei es positiv sei, dass die deutsche Wirtschaft dazu beigetragen habe. Die Handelsbeziehungen zwischen den zwei Ländern seien sehr intensiv, sagte sie. Zugleich betonte sie aber auch, dass die deutschen Wirtschaftsakteure verlässliche Rahmenbedingungen schätzten. Wenn diese Rahmenbedingungen gewährleistet seien, seien die deutschen Unternehmen treue Investoren.
Kooperation mit Eurasischer Wirtschaftsunion
Merkel sprach nach ihrem Treffen mit Orbán auch davon, dass die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen der EU und der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion überprüft werden müssten. Dies verspreche zwar ein langer Prozess zu werden, so Merkel, aber er werde beiden Seiten zum Vorteil gereichen.
All das dürfe die EU aber nicht davon ablenken, den Ukraine-Konflikt endlich einer Lösung zuzuführen. Wie sie sagte, gab es zwischen ihr und Orbán Einvernehmen darin, dass Europa den internationalen Herausforderungen als Einheit begegnen müsse. Viktor Orbán seinerseits redete einer friedlichen Beilegung des Ukraine-Konflikts das Wort. Er sagte: Für Ungarn ist die Frage des russisch-ukrainischen Konflikts aus drei Gründen enorm wichtig: 1) Die Ukraine ist Ungarns Nachbar 2) Die Gaslieferungen nach Ungarn führen über die Ukraine 3) In der Ukraine leben 200.000 ethnische Ungarn.“
An der Andrássy Universität hielt Merkel nach der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Universität Szeged einen kurzen Vortrag. In diesem rief sie die Regierung Orbán indirekt dazu auf, die Opposition nicht als Feind zu betrachten, sondern als Partner. Durch ein gemeinsames Auftreten und Kooperation, so Merkel, könne ein Land viel mehr erreichen. Im Anschluss an ihr Referat stellte sie sich den Fragen der Studenten.
Nicht immer einer Meinung mit Orbán
Danach gefragt, wie ihr Verhältnis zum ungarischen Ministerpräsidenten sei, antwortete Merkel, dass Orbán ein Kollege sei, mit dem sie eng zusammenarbeite. Wie sie sagte, ist der ungarische Premier für Kompromisse offen, wenn es um die „europäischen Einheit“ geht. Auch könne man über alles mit ihm reden, fügte sie hinzu. Die deutsche Kanzlerin merkte aber auch an, dass sie mit Orbán nicht immer einer Meinung sei, als Beispiel nannte sie die unterschiedlichen Vorstellungen von der liberalen Demokratie.
Auf die Frage eines Studenten nach ihrer Haltung zur Einwanderung, sagte Merkel, es sei besonders wichtig, dass die Regelung der Einwanderung frei von Fremdenhass bleibe. Sie wies darauf hin, dass es in Sachen Einwanderung auch in Deutschland Debatten gebe. Die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU sei jedenfalls wichtig. Was die Migration jener Menschen anlangt, die jenseits Europas in die EU kommen, müsse ein Unterschied zwischen den Arbeitsuchenden und den politischen Flüchtlingen gemacht werden. Letzteren müsse geholfen werden, sagte Merkel.
Zum Abschluss ihrer Visite besuchte Merkel die Große Synagoge in der Dohány utca, wo sie mit den Vorsitzenden mehrerer jüdischer Organisationen Gespräche führte. Die Bundeskanzlerin wurde vom Präsidenten des Verbands jüdischer Glaubensgemeinschaften in Ungarn (Mazsihisz), András Heisler, und dem Hauptrabbiner der Großen Synagoge, Róbert Frölich, am Haupttor empfangen. Nach einer Führung durch das Gebäude wurde im Garten der Synagoge der Opfer des Holocaust gedacht. Dort traf Merkel auch mit Holocaust-Überlebenden zusammen.
Reaktionen der Oppositionsparteien
Der Vorsitzende der Sozialisten (MSZP), József Tóbiás, erklärte nach dem Orbán-Merkel-Treffen, dass seine Partei mit den Ansichten Merkels zur Demokratie übereinstimme. Laut Tóbiás hat Viktor Orbán demgegenüber wieder eindrücklich bewiesen, dass er kein Demokrat sei. Der Abgeordnete der rechtsradikalen Partei Jobbik, Tibor Bana, kritisierte die Regierung Orbán, die EU-Sanktionen gegen Russland mitgetragen zu haben. Bana rief Orbán auf, das wirtschaftliche Embargo gegen Russland sofort zu beenden.
Die Co-Vorsitzende der Ökopartei LMP, Bernadett Szél, warf Orbán vor, bei der Energieversorgung Ungarns nur auf Russland zu setzen. Orbán sollte sich vielmehr ein Beispiel an Angela Merkel nehmen, die von einer Diversifizierung der europäischen Energieversorgung sprach. Der stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Koalition (DK), Csaba Molnár, interpretierte die Worte Merkels als Kritik an den geschäftlichen Rahmenbedingungen in Ungarn und der Situation von Presse, Zivilgesellschaft und Opposition.
Zum Besuch der deutschen Bundeskanzlerin:
Angela Merkel hat, als sie noch FDJ-Sekretärin war (zuständig für Agitation und Propaganda), ihre Sprüchlein gelernt und aufgesagt, ohne einen Hauch von Kritik zu üben. Das Gleiche macht sie auch heute. Sie sagt ihr Sprüchlein (jetzt gemäß unserer westlichen Betrachtungsweise) auf. Es lautet: die Rolle der Opposition, der Zivilgesellschaft und der Medien ist zu würdigen , ohne auch nur mit einem Wort auf den Dekorationscharakter dieser Forderungen einzugehen. Forderungen, die zwar dem Ohr schmeicheln, der Wirklichkeit aber Hohn sprechen. Jemand, der nur sagt, was ihm aufgetragen ist, besitzt keine Toleranz für abweichende Meinungen. Herr Orbán kommt infolgedessen mit seinen Ideen bei Frau Merkel nicht an. Diese ist sich gleichgeblieben. Wie sie in ihrer Jugend war, so ist sie auch heute.
Man wird sich dem Thema Ungarn in Deutschland nur annähern könne, wenn man alle Beteiligten an einen Tisch holt, Polemik unterlässt, die Fehler der Linken und Liberalen in Ungarn schonungslos benennt und auch anerkennt, das Fidesz die Situation finanziell und wirtschaftlich in den letzten Jahren halbwegs in den Griff bekommen hat. Den Schnuffis bei den europäischen Linken und Liberalen sei gesagt: Es ist ein Wunder, dass Ungarn sich halten konnte, nachdem 2009 unter Gyurcsány ( „Sozialisten“) der Staatsbankrott drohte.
Dass heute ganz andere den Zusammenhalt der EU bedrohen, insbesondere die EZB und die Reformverweigerer im Süden, dürfte wohl klar sein.
Spätestens seit Donnerstag wissen wir, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Es wird keinen Untersuchungsausschuss gegen Luxemburg in Sachen Steueroase geben. Bei diesen selbstherrlichen EU-Säufern liegt das größte Problem der EU und gefährdet den Zusammenhalt. Ich bin da ganz eins mit den Grünen und Schiffer András.
Liberale oder illiberale Demokratie?
Noch ein Wort zu diesem Thema: Eine liberale Demokratie setzt – zu Ende gedacht – auf einen zügellosen Manchester-Kapitalismus, während eine illiberale Demokratie den menschenfeindlichen Kapitalismus in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Sein Name ist: Soziale Marktwirtschaft.