
Javier González Pareja, Repräsentant der Robert Bosch-Gruppe in Ungarn: „Was uns gemeinsam mit anderen Firmen wehtut, ist, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Ungarn unter all dem massiv leidet.“
Die Bosch-Gruppe beschäftigt in Ungarn an neun Standorten über 10.000 Mitarbeiter. Das neue Frachtkontrollsystem EKÁER ist derzeit auch hier das Thema Nummer 1. Wir unterhielten uns mit Javier González Pareja, dem Repräsentanten der Robert Bosch-Gruppe in Ungarn, sowie Volker Schilling, dem Geschäftsführer der Robert Bosch Elektronika Kft., Hatvan, über den derzeitigen Stand in dieser Frage und mögliche Alternativen.
Was wäre, wenn das, was jetzt schwarz auf weiß im Gesetz steht, von Ihrer Firma komplett umgesetzt werden würde? Geht das überhaupt?
JGP: Bei etwa 4.000 Lieferanten und täglich etwa 700-800 EKÁER-pflichtigen Lieferungen müssten wir nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 50 Leute zusätzlich einstellen. Natürlich sind wir gegen jede Form von Mehrwertsteuerbetrug, EKÁER in der jetzigen Gestalt halten wir aber für keine praktikable Lösung, um dieses Problems Herr zu werden.
Nehmen wir an, Ihre Gruppe würde die 50 Leute einstellen und anlernen bzw. sich auch auf anderen Gebieten fit für EKÁER machen! Könnte Ihr Alltag dann genauso weitergehen wie vorher?
VS: Definitiv nicht! Gewisse Dinge, die EKÁER von uns verlangt, sind einfach beim besten Willen nicht umsetzbar und auch mit dem operativen Geschäftsbetrieb in der Automobilindustrie nicht vereinbar. Wir werden im Rahmen von EKÁER für Warenbewegungen verantwortlich gemacht, die wir nicht in der Hand haben. Etwa 70% unserer Kunden holen die Ware direkt bei uns ab. Damit machen sie dann das, was sie für sinnvoll und richtig halten. Wir haben nach dem Besitz- und Eigentumsübergang keinen Einfluss mehr darauf. Dennoch sind wir im Sinne von EKÁER noch für alle Änderungen im Transportprozess bis zur Staatsgrenze verantwortlich und müssten dem Finanzamt darüber berichten. Wir haben 400 Abladestellen und 70 Kunden, praktisch die komplette internationale Automobilindustrie. Mit rund 5.000 Mitarbeitern ist Bosch Hatvan einer der weltgrößten Hersteller für Automobilelektronik. Die meisten Daten haben wir im System, aber bei Weitem nicht alle, die wir für EKÁER benötigen. Wir müssten also manuell massenhaft Daten nachpflegen, und dies so zeitnah, dass die Information im EKÁER-System zu jedem Zeitpunkt der tatsächlichen Situation auf der Straße entspricht. Unseren Kunden müssten wir permanent hinterher telefonieren. Mit all dem würden wir physisch einfach an unsere Grenzen stoßen.
Ich nehme an, auf der Eingangsseite gestaltet es sich nicht einfacher.
VS: Ganz im Gegenteil: Hier ist es sogar noch schwieriger. Wir haben ungefähr 600 Lieferanten und etwa 10.000 lebende Sachnummern. Viele unserer Lieferanten organisieren ihre Lieferungen vertragsgemäß in eigener Zuständigkeit. In der Zulieferung von Elektronikbauteilen ist dabei Konsignation unsere Vorzugsrichtung; hierbei bleiben ganze Rohstoffklassen bis zum Fertigungsverbau im Lieferanteneigentum. Die Verantwortung für die fristgerechte Anlieferung im Werk liegt beim Lieferanten, und ob er zwischendurch in Ungarn die Fahrzeuge wechselt oder andere Transportlose bündelt, ist für uns nicht relevant. Da Transportavisierungen nicht industrieübergreifend standardisiert und nicht alle EKÁER-Daten darin enthalten sind, käme auch hier ein erheblicher Aufwand auf uns zu, um all die von EKÁER gewünschten Informationen zu ermitteln. Ein konkretes Beispiel: Von einem Lieferanten erhalten wir Widerstände und einfache Elektronikbauteile in großen Mengen. Letzte Woche kam wieder eine Lieferung. Mit dabei war eine Excel-Datei mit 1.223 Artikelpositionen, die der Lieferant (in bester Absicht) zur Erfüllung seiner EKÁER-Informationspflichten beigelegt hatte. Leider haben einige Informationen gefehlt, z.B. war es nicht möglich, in der Datei die Teilsummen je Zolltarifnummer auszuwerten. Den Fall haben wir mal durchexerziert und mussten feststellen, dass eine „real-time“-Datenpflege der umfangreichen EKÁER-Daten, d.h. zeitnah zum schon auf der Straße befindlichen LKW schlicht nicht zu leisten ist – und das nicht einmal mit 5 Leuten, die gleichzeitig am selben Vorgang arbeiten. Es gibt noch etliche weitere Fragezeichen, auf die ich jetzt aus Zeitgründen nicht genauer eingehen kann, als Beispiel sei hier nur auf die Bewertung von Leergut, die Konvertierung von Lieferantenwährungen oder die sendungsbezogene Zusammenführung von LUT-Daten hingewiesen.
Mit anderen Worten: Selbst wenn Sie weder Zeit noch Kosten scheuen würden, ist EKÁER in der jetzigen Form nicht umsetzbar?
VS: So ist es.
Hat der Gesetzgeber bisher auf diese objektive Nichtmachbarkeit von EKÁER reagiert?
JGP: Inhaltlich, auch mit bestem Willen, so gut wie gar nicht. Durch die Einführung und Verlängerung der Periode der Straffreiheit wurde EKÁER auch nicht praxiskompatibler. Was uns gemeinsam mit anderen Firmen wehtut, ist, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Ungarn unter all dem massiv leidet.
VS: Wir bewegen uns in einem hochdynamischen und sehr anspruchsvollen Umfeld. Im europäischen Fertigungsverbund der Automobilindustrie ist absolute Zuverlässigkeit und Termintreue eine Grundlage des Geschäftsmodells. Allein wir liefern jährlich fast 100 Millionen Produkte verteilt auf 350-400 LKWs pro Tag. In einem derart komplexen System würde jede EKÁER-bedingte Lieferverzögerung gravierende Auswirkungen haben. Ich kenne auch kein anderes Land in Europa, das bereit wäre, sich zur Absicherung der Steuerpflichten auf ein derart komplexes Transportkontrollsystem einzulassen.
Was sollen dann die vielen Konsultationen, wenn inhaltlich seit zwei Monaten praktisch nichts Substanzielles passiert?
JGP: Es wird dabei schon zugehört. Kleine Änderungen in winzigen Detailfragen konnten wir schon durchsetzen, etwa dass das Kästchen A oder B so oder so ausgefüllt werden muss. Substantielle Änderungen, wie etwa die Herausnahme von gewissen Produkten oder Branchen, gibt es bisher aber nicht, wir hoffen jedoch, dass es kommen wird.
Warum nicht?
JGP: Vielleicht weil die Vertreter der Verwaltung die gesamten Auswirkungen für die Industrie nicht komplett beurteilen können. Sie sind so davon begeistert, den Mehrwertsteuerbetrügereien mittels EKÁER das Wasser abzugraben, dass sie vielleicht nicht ganz abschätzen können, zu welchen – vom Gesetzgeber garantiert nicht gewollten – negativen Konsequenzen die EKÁER-Durchsetzung rechts und links von diesem Ziel führt. Die ursprüngliche Absicht von EKÁER, Mehrwertsteuerbetrug zu bekämpfen, ist mit Sicherheit gut, dennoch lässt sich das System so nicht in der Realität umsetzen.
VS: Ich bin der Ansicht, die ungarische Regierung wollte einfach ein Zeichen setzen, dass sie das Thema Mehrwertsteuerbetrug jetzt konsequent aufgreift. So lässt sich auch der zeitliche Druck bei der Gesetzgebung erklären. Bei der Fixierung auf das eine Ziel und auf das Wunschdatum 01.01.2015 wurde versäumt, die Konsequenzen von EKÁER auf das industrielle Tagesgeschäft mal genauer zu beleuchten. Das führt dann zwangsläufig zur aktuellen Unzufriedenheit.
Wieviel Informationen braucht man, um an eine EKÁER-Nummer zu kommen?
VS: Abhängig von der Zolltarifnummer müssen bis zu 50 Felder befüllt werden. Ein Teil der notwendigen Informationen kann natürlich aus dem System erzeugt werden. Viele Felder könnten aber nur unsere Geschäftspartner ausfüllen. Das ist eines der Hauptprobleme. Jetzt müssten wir uns wegen EKÁER für Details interessieren, die für unser Produktionsgeschehen praktisch keine Relevanz haben, etwa das Warengewicht nach Losen gebündelt, sortiert nach Zolltarifnummern je LKW. An verschiedenen Orten und in diversen Systemen sind freilich alle Informationen irgendwie verfügbar. Das Problem ist aber das Matching. Das würde Unmengen an Arbeit kosten. Und all das übrigens – auch das sei hier einmal deutlich gesagt – ohne zusätzliche Wertschöpfung für unsere Produkte.
Na immerhin könnte der Mehrwertsteuerbetrug eingedämmt werden.
JGP: Dieser Beweis steht noch aus. Wer auf diesem Weg betrügen will, beantragt wahrscheinlich keine EKÁER-Nummer… und nimmt das Kontrollrisiko in Kauf. Die Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug sollte jedoch weiterhin mit Nachdruck verfolgt werden.

Volker Schilling, Geschäftsführer der Robert Bosch Elektronika Kft., Hatvan: „Solche Schnellschüsse wie EKÁER sollten in Zukunft einfach vermieden werden. Das wäre einer meiner größten Wünsche als CEO eines in Ungarn seit Jahren erfolgreich agierenden Großunternehmens.“
EKÁER wirft auch Fragen in Sachen Datenschutz auf.
VS: Richtig. Aus meiner Sicht hat die Regierung bisher nicht nachgewiesen, dass das System datenschutzrechtlich wasserdicht ist. Mit vielen unserer in Ungarn hergestellten Produkte sind wir auf dem Weltmarkt in der Spitzengruppe vertreten. Damit sind unsere Produktionsdaten für unsere Konkurrenten hoch interessant. Nun sollen wir vertrauliche Kosteninformationen in halböffentliche Internetportale einspeisen.
Funktioniert die Übertragung großer Datenmengen an das Finanzamt?
VS: Nein. Das Portal als solches ist erreichbar, man kann die Daten dort einwandfrei manuell einpflegen. Mittelständler mit einer übersichtlichen Zahl an EKÁER-Fällen pro Tag werden das sicher tun. Bei unserer Datenmenge ist das aber nicht so ohne weiteres möglich.
Ein NAV-Sprecher hat uns in einem Interview letzte Woche erklärt, dass man einfach nur die zwei Systeme verbinden sollte und dann die Computer die ganze Arbeit erledigen würden. So wären auch keinerlei zusätzliche Arbeitskräfte notwendig. Funktioniert die EKÁER-Welt bei Ihnen auch so gut?
VS: Nein. Es ist illusorisch anzunehmen, mit ein paar Knopfdrücken alle erforderlichen Informationen zusammenzubekommen und dann vollautomatisiert in EKÁER auf dem Laufenden zu halten. Es geht hier ja nicht um einen statistischen Jahresbericht, sondern um eine Abbildung der Warenflüsse auf Ungarns Straßen in Echtzeit. Ich habe weiter oben schon angedeutet, wie problematisch es teilweise ist, an einzelne dieser Informationen heranzukommen. Den geschilderten „Idealfall“ gibt es sicher im Einzelfall, die industrielle Praxis ist aber eine andere. In vielen Fällen heißt die Schnittstelle einfach Mensch. Im Übrigen sind unsere Logistik- und IT-Systeme im europäischen Fertigungsverbund standardisiert, sie lassen sich nicht mal einfach so von heute auf morgen auf die Belange von EKÁER ummodeln.
Wieviel Zeit würden Sie dafür benötigen?
VS: Wir sind bereits in der Konzeption und Programmierung. Ich gehe davon aus, dass wir Anfang April einen ersten Wurf fertighaben. Dann kommen die Probeläufe, die bei professioneller Validierung noch einmal etwa zwei Monate in Anspruch nehmen. Anfang Juni könnten wir dann ein System haben, das zuverlässig funktioniert. Aber wir haben ausgerechnet, dass die ungarischen Bosch-Werke selbst dann noch 15 zusätzliche Leute benötigen: um Daten, die von der Regel abweichen oder nicht so leicht zu ermitteln sind, im 24-Stunden-Betrieb manuell einzupflegen.
Sechs Monate sind etwas anderes als ein Monat, der noch dazu mehrere Feiertage enthielt…
VS: Eine professionelle IT-Anbindung an EKÁER wäre nicht einmal dann machbar gewesen, wenn wir den kompletten Dezember durchgearbeitet hätten. Dazu ist ein Datenkonzept auf Basis eindeutig geklärter gesetzgeberischer Vorgaben notwendig.
JGP: Die sechs Monate hatten wir übrigens auch im Hinterkopf, als wir der ungarischen Seite unseren Vorschlag einer Verlängerung des Bestrafungsmoratoriums bis Ende Juni unterbreiteten.
Wie soll es weitergehen?
VS: Aus unserer Sicht führt EKÁER zu einem Nachteil in der Agilität des Industriestandortes Ungarn, und damit zu einer handfesten Einschränkung in unserer Wettbewerbsfähigkeit.
JGP: Damit wir wieder normal weiter arbeiten können, sehe ich als Möglichkeit, EKÁER in seiner jetzigen Form abzuschaffen, und zwar nicht nur für den Automotive-Sektor, sondern für die gesamte Industrie. Zur ungarischen Bosch-Gruppe gehören auch drei Nicht-Automotive-Standorte. Diese leiden genauso unter dem praxisfernen EKÁER.
Wie kann die Regierung aus der ganzen Geschichte kommen, ohne ihr Gesicht zu verlieren?
VS: Anstatt alle Industriepartner unter Generalverdacht zu stellen, sollte sich die Überwachung per Transportkontrollsystem auf vordefinierte kritische Warengruppen wie z.B. die Lebensmittelindustrie beschränken, und auch die Berichtstiefe ist auf das absolut notwendige Mindestmaß zu reduzieren. AEO-zertifizierte Betriebe sollten im Übrigen generell ausgenommen werden.
Ließe sich auch der Vertrauensverlust gegenüber der Industrie so leicht kitten?
VS: Vertrauen ist die wichtigste Grundlage für Zusammenarbeit, hier am Industriestandort wurde es über viele Jahre aufgebaut. EKÁER erwischt uns mit voller Breitseite, und das ist für die ungarische Automobilindustrie durchaus eine neue Erfahrung. Klar, dass dieser nicht durchdachte Parforceritt Vertrauen kostet.
JGP: Das Thema EKÁER passt nicht zum Geist der strategischen Vereinbarungen, die zahlreiche Großunternehmen, so auch wir, mit der Regierung abgeschlossen haben. Darin heißt es unter anderem, dass sich beide Seiten bemühen, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Ungarn zu erhöhen. EKÁER passt hier nun gar nicht ins Bild.
In der kommenden Woche werden Sie mit Kanzlerin Angela Merkel zusammentreffen. Welche Gesprächsthemen wird es neben EKÁER noch geben? Gibt es noch weitere Wolken?
JGP: Durchaus. Der Dialog mit den Regierungsstellen ist offen und kooperativ. Obwohl bereits Verbesserungen spürbar sind, denken wir mal an das Thema Bürokratieabbau beziehungsweise die teilweise ungenügende Geschwindigkeit der Bürokratie, was sicherlich nicht nur in Ungarn ein Thema ist. Und dann gibt es natürlich die altbekannten Themen, wie etwa den allgemeinen Wunsch nach mehr Berechenbarkeit und Verlässlichkeit.
VS: Wir brauchen klare gesetzgeberische Verlässlichkeit und eindeutige Auslegungsbestimmungen. In unseren Gesprächen nehmen wir schon ein Bemühen der Regierung wahr, in diesem Sinne zusammenzuarbeiten. Wir haben auf Basis der strategischen Vereinbarung mehrere Arbeitsgruppen gegründet. Die Leute, die dort von Regierungsseite sitzen, wollen etwas in die positive Richtung bewegen, davon bin ich persönlich überzeugt. EKÁER ist für mich keineswegs ein böswilliger Akt, die Grundidee ist absolut nachvollziehbar. Ein Gesetz jedoch sollte nachhaltig Bestand haben, praktisch und eindeutig umsetzbar sein und vor allem nicht sofort nach Einführung wieder modifiziert werden müssen.
Im Rahmen der strategischen Vereinbarungen wurden zusätzliche Gesprächsmöglichkeiten geschaffen, auch um stärker als bisher den Praxisbezug herzustellen. Wenn die Regierung jetzt aus dem ganzen EKÁER-Problem die Lehre zieht, bei zukünftigen gesetzgeberischen Ideen verstärkt auch auf unseren Sachverstand zurückzugreifen, dann hätte das Ganze wenigstens etwas Gutes bewirkt. Solche Schnellschüsse wie EKÁER sollten in Zukunft einfach vermieden werden. Das wäre einer meiner größten Wünsche als CEO eines in Ungarn seit Jahren erfolgreich agierenden Großunternehmens.
JGP: Es wäre gut, wenn Maßnahmen der Regierung wie EKÁER im Vorfeld besser durchdacht wären. Über EKÁER haben wir schon genug gesprochen. Es gibt aber auch weitere Themen. Ich möchte ausdrücklich ein positives Beispiel bringen, wie die Körperschaftsteuerbegünstigungen auf Forschung und Entwicklung. Der Gesetzentwurf verfolgte einen guten Ansatz. Dann wurde aber bei der Umsetzung ein sehr kompliziertes Kontrollverfahren verlangt, das weder die Firmen noch die Verwaltung adäquat umsetzen konnten. Nun wurde das Gesetz so nicht umgesetzt. Das gibt uns die Hoffnung, dass auch EKÁER gestoppt beziehungsweise deutlich geändert werden kann. Denn erfreulicherweise sind die Dialogmöglichkeiten mit der Regierung immer offen.