Plötzlich und völlig unverhofft gab die Schweizerische Nationalbank dem Euro den Laufpass: Am vergangenen Donnerstag wurde der künstlich festgelegte Mindestkurs von 1,20 zum Euro aufgehoben. So plötzlich, dass selbst IWF-Chefin Christine Lagarde aus allen Wolken gefallen schien. Finanzmärkte im 21. Jahrhundert – reinstes Theater.
Auf dem Spielplan steht Tragikomödie. Spaß haben nur die wenigen Eingeweihten des „inner circle“. Es gibt daneben nicht wenige Aufgeklärte, die meinen, sie verstünden, warum der Kurs mal hoch, mal runter geht. Und alle noch so verrückten Bewegungen anständig erklären zu können. Im Nachhinein, versteht sich. Die breite Masse der Menschen interessieren weder die Zusammenhänge noch ficht sie es an, wie Glücksritter ihre erste Million machen. Solange die Märkte nicht aus dem Ruder laufen. Dann spielen die da oben Tragödie, und die da unten dürfen leiden.
Die gemeinsame Währung hieß Hoffnung
So wie jetzt beispielsweise Hunderttausende in Polen, Kroatien und in Österreich. Menschen, die sich in besseren Jahren in Schweizer Franken verschuldeten, weil ihnen die Banken in dieser Währung die lukrativsten Kredite anbieten konnten. (Es ist wahr, dass der japanische Yen zinstechnisch selbst noch den Franken ausbooten konnte, aber diese fernöstliche Währung war nur wirklich kühnen Europäern geheuer.) Wer einen Kredit aufnimmt, zumal wenn er für das geliehene Geld ein Haus baut oder ein Auto anschafft, glaubt an die Zukunft, an sein eigenes Vorankommen und das der Gesellschaft, in der er lebt.
Wer in Österreich einen Frankenkredit aufnahm, glaubte an die Zukunft des Euro, vertraute auf eine Gemeinschaftswährung, die auf starken Schultern ruht. Wer dies in Mittelosteuropa tat, von außerhalb der Eurozone oder gar außerhalb der Europäischen Union, der zeigte freilich so richtigen Optimismus, im Vertrauen auf den Integrationsprozess seines Landes, an dessen Ende eine Mitgliedschaft im Klub der Glückseligen winkte. Von rechts außen betrachtet, sprich aus der Sicht der Osteuropäer, mussten diese Gemeinschaften, Europäische Union und Eurozone, wie das gelobte Land erscheinen.
Nichts wird mehr so sein, wie es war
Das böse Erwachen kam, als die US-Märkte 2008 aus dem Ruder liefen. Fortan schlugen die Theaterspieler in Übersee falsche Töne an, die sensiblen Europäer aber zerrissen sich in Selbstvorwürfen. Die vom Auslöser der Krise aufgebürdete radikale Heilkur machte das infizierte Europa erst richtig krank. So kommt es, dass wir auch sechs Jahre danach die Zeche zahlen. Wer weiß, wie lange noch, denn im Gegensatz zu Amerika wird hier nichts mehr so sein, wie es vor 2008 war. Unter anderem deshalb, weil sich Hunderttausende Europäer in Schweizer Franken verschuldeten.
Als die Krise nämlich einst von Übersee nach Europa überschwappte, geriet der Euro ins Fadenkreuz der Märkte. Begleitet von Breitseiten aus ihren Argumentationskanonen schickten die Spekulanten den Euro auf Talfahrt: Von 1,60 in Friedenszeiten ging es über 1,50 stetig bergab, bis am 9. August 2011 Parität erreicht war (allein an jenem Tag wertete der Euro rund sechs Prozent ab).
Das war denn auch der Schweizerischen Nationalbank (SNB) zu viel des Guten; sie sagte einem Grundsatz der freien Marktwirtschaft Ade und zurrte den Mindestwechselkurs des Euro zum Franken kurzerhand bei 1,20 fest. Von nun an gab es eine Schranke für die Spekulanten: Sie konnten gerne auf einen erstarkenden Euro setzen, sobald sie aber den Franken favorisierten und den Kurs gegen die künstliche Barriere drückten, intervenierte die SNB. Das kostete die eidgenössischen Währungshüter sehr viel Geld.
Heute weist die Bilanz der Notenbank in Zürich Devisenbestände von über 500 Mrd. Franken aus – dreimal so viel, wie es 2008 waren. Das Problem der Schweizer sind die drohenden Wertverluste auf ihre Devisenreserven. Dagegen kommen die Sorgen der Realwirtschaft nicht mehr an: Die Schweizer Exporteure hatten gut drei Jahre Zeit, sich auf einen starken Franken vorzubereiten. Sie erhielten praktisch eine Schonfrist, und die ist nun abgelaufen.
Es schien eine geniale Geschäftsidee
Ebenso wie die Schonfrist der in Schweizer Franken verschuldeten Mittel- und Osteuropäer. Wer jetzt in Deutschland den Zeigefinger hebt, mit dem schlagenden Argument, „die sind doch selbst schuld“, sollte mal bei den Verwaltungen großer deutscher Städte anfragen, wie sie den Spagat bewerkstelligten, immer mehr kommunale Aufgaben ohne Rückendeckung vom Bund zu finanzieren. Und dann keine großen Augen machen, wenn sich herausstellt, dass Fremdwährungskredite auch in deutschen Landen kein Fremdwort sind.
Der niedrige Zins ließ halt so manche Risikoabteilung schwach werden. Österreich seinerseits kann geradezu als Geisel des Euro-Franken-Zielkonflikts an den internationalen Devisenmärkten bezeichnet werden. Die Handelsbanken des Alpenlandes hielten sich für besonders clever, als sie das Geschäftsmodell mit den auf einem „billigen“ Schweizer Franken basierenden Krediten austüftelten. Geldinstitute wie Erste Bank und Raiffeisen exportierten die neue Konstruktion sogleich gen Osten – in Ungarn mit seinem hoffnungslos inflationären Forint fiel diese auf einen günstigen Nährboden.
Über die fatalen Folgen haben wir nicht nur einmal berichtet, doch seit dem vergangenen Donnerstag gilt eine neue Zeitrechnung: Der Frankenkurs ist frei, die Devisenkreditnehmer in Ungarn aber sind gerettet. Denn Ministerpräsident Viktor Orbán wies im Spätherbst 2014 die Umwandlung der einst in Euro, Schweizer Franken und Yen aufgenommenen Hypothekenkredite in Forint an. Was für ein perfektes Timing! Als hätte Orbán der SNB in die Karten geschaut. (Ganz auszuschließen ist das nicht, war er ja in den vergangenen Monaten wiederholt in recht geheimer Mission, zumal mit der Bahn, in der Eidgenossenschaft unterwegs. Das wurde freilich mit Privatbesuchen erklärt, studiert doch seine älteste Tochter gerade in der Schweiz.)
Der im Westen oft missverstandene Orbán gilt nun hier wie da als Held. Er selbst brauchte nach dem schwarzen Donnerstag erst einmal Bedenkzeit, bevor er am Sonntag im staatlichen Kossuth-Radio (dort besitzt er einen festen Sendeplatz am Freitagmorgen) zur „Bescheidenheit von Veilchen“ mahnte. Und das dicke Lob gleich an seinen Notenbankpräsidenten György Matolcsy weitergab, dessen MNB mit einer ausgeklügelten Konstruktion nicht nur die Kreditnehmer rettete, sondern gleich noch den Handelsbanken die für den Pflichtumtausch benötigten Devisen zur Verfügung stellte, damit diese nicht im Regen stehen bleiben. Im Lichte des 15. Januar 2015 sollten sich diese Operationen als geniale Schachzüge erweisen.
Ungarn erteilt nun Nachhilfe
Die MNB spricht selbst von zwei Prozent am Bruttoinlandsprodukt – um diesen Betrag (in absoluten Zahlen ausgedrückt rund 700 Mrd. Forint oder 2,2 Mrd. Euro) wurden die Kreditnehmer entlastet, da für sie ab Jahresanfang ein fixierter Wechselkurs von 256,50 HUF/CHF bzw. 309 HUF/EUR gilt. Während Euro und Franken aktuell um 315 schwanken! Womit ein in Franken verschuldeter Ungar für jeden einzelnen Franken seiner Schuldenlast 60 Forint mehr zahlen müsste. Beziehungsweise tatsächlich zahlen muss, wenn es sich nicht um einen Hypothekenkredit, sondern um eine Autofinanzierung oder einen frei verfügbaren Kreditrahmen auf CHF-Basis handelt. Nach Schätzungen trifft dies mehr als 100.000 ungarische Familien. Laut MNB wurden aber rund 500.000 Familien gerettet, die Ende 2014 einen Schuldenberg von 3.500 Mrd. Forint (rund 11 Mrd. Euro) für ihren Wohnkomfort bedienen mussten.
Das Volkswirtschaftsministerium erteilt derweil Nachhilfeunterricht für Kollegen aus Kroatien, Polen und anderen Ländern. Selbst Experten der Europäischen Zentralbank wollen nun mehr Details zum ungarischen Modell der Kreditkonvertierung erfahren. Die ungarischen Gesetze zur Rettung der Devisenkreditnehmer und zum „fairen Bankensektor“ sind auf dem Weg zu internationalen Bestsellern.