Viktor Orbán regiert nun schon im fünften Jahr. Was brachte seine „Regierung der nationalen Mitte“ den Ungarn und was versprechen die kommenden drei Jahre? Bevor wir uns in Pro und Kontra verzetteln, sei ein Aspekt genannt, der unumstößlich ist: das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft.
Die einen singen Lobeshymnen auf Viktor Orbán, die anderen möchten ihn am liebsten zum Teufel jagen: Der seine dritte Amtszeit politisch mehr denn je einbetoniert antretende Ministerpräsident spaltet die Geister wie kein anderer. Im Ausland wird er vornehmlich aufgrund oberflächlicher Kenntnisse und darum kritisiert, weil er ausgetretene Pfade verlässt und lieber experimentiert. Für seine Landsleute wirkt sich eher kritisch aus, dass Orbán längst eigenmächtig entscheidet, immer seltener den Konsens sucht, während niemand in seinem Umfeld mehr Zeit auf Studien verschwendet, um mögliche Risiken und Nebenwirkungen dieser „genialen Einfälle“ aufzudecken.
Nach den Jahren der Stabilisierung werden heute die Fundamente einer national gesinnten Wirtschaftsordnung gelegt. Es geht mal wieder holterdiepolter, als hätte der Fidesz keine Zeit für ein Konzept mit Hand und Fuß. Mittlerweile wird nicht mehr im Wochen-, sondern geradezu im täglichen Takt mit Ideen um sich geworfen, die wirklich niemanden mehr verschonen. Cafeteria so hoch besteuern, dass es sich nicht mehr lohnt. Internetsteuer einführen, oder besser doch nicht, weil die Leute mal wieder alles falsch verstanden haben. Den Grünen Punkt neu erfinden, auditierte Versorgungsunternehmen von einem Monopol nochmals auditieren lassen, immer mehr Kassen online anbinden. Die Spediteure zur elektronischen Erfassung sämtlicher Frachtdaten (EKAER) nötigen. Dem Handel eine gewaltige Gebührenerhöhung aufdrücken, die vermeintlich einer höheren Nahrungsmittelsicherheit dient…
Orbán ist Jurist, er fühlt sich ganz in seinem Metier, wenn er Spielregeln neu schreiben darf. Damit hat er bereits mehrere Sektoren der Volkswirtschaft der „Fremdherrschaft“ entrissen: Nach Bankensektor und Energiesektor sind Medien und Handel die aktuellen Schlachtfelder. Bei den Banken haben über Jahre angewandte Sondersteuern ihre Wirkung nicht verfehlt. Takarékbank, MKB und Budapest Bank wurden den deutschen und amerikanischen Investoren abgekauft; neben den Genossenschaftsbanken wird nun eine starke Handelsbank als Alternative zur OTP aufgebaut. Im Energie- und Versorgungssektor ziehen sich die mit der Privatisierung Mitte der 90er Jahre ins Land geströmten deutschen, französischen und italienischen Konzerne infolge absurder Gängelung durch die Regulierung zurück und überlassen das Feld der Mol-Gruppe und der staatlichen Energieholding MVM.
Den „Extraprofiten“ der bösen Multis ist diese Regierung nun auch bei RTL, Tesco & Co. auf der Spur. Die Handelsgesellschaften haben derzeit eine ganze Reihe an Maßnahmen der hyperaktiven Regierung zu verdauen, unter denen das Sonntags-Verkaufsverbot – so es denn wettbewerbsneutral umgesetzt wird – noch die kleinste Delle verursachen dürfte. Neben der bereits erwähnten Gebühr für bessere Lebensmittelsicherheit, die mal wieder nur die „Extraprofite“ der großen Ketten abschöpft, attackiert das Volkswirtschaftsministerium von Mihály Varga Grundfesten der marktwirtschaftlichen Ordnung, wenn Handelsunternehmen nach zwei Jahren in den roten Zahlen die Lizenz entzogen werden soll. Wohlgemerkt nur Großunternehmen mit einem Mindestumsatz von rund 160 Millionen Euro; die großen einheimischen Handelsketten fallen deshalb nicht unter diese Regelung, weil CBA, Coop und Reál Franchise-Misch-Systeme aufweisen.
Ausländische Investoren müssen verstehen, dass sie im Orbán-Ungarn besser freiwillig das Feld räumen, sofern ihr Geschäfts-Know-how von Einheimischen ohne weiteres kopiert werden kann. Im verarbeitenden Gewerbe sowie in Technologiesektoren sind Investoren derweil aber nicht nur willkommen, sondern als Zugpferde vonnöten, um ungarische Klein- und mittelständische Unternehmen heranzuziehen. Denn an Stelle der heute vielleicht zweitausend exportfähigen ungarischen Firmen möchte Orbán zwölftausend solche Firmen im ungarischen Eigentum sehen, denen er die Ostmärkte öffnet und den Forint schwächt.
Wenn bei den guten Multis das Licht ausgeht
Die von Orbán hofierten Investoren mögen nicht bemerken, dass etwas faul ist im heutigen Ungarn. Sie sind begeistert von der liberalsten Arbeitsgesetzgebung auf dem Kontinent, denn wo sonst kann man die teuren Maschinen 168 Stunden in der Woche auslasten? Es gibt zwar in den meisten Betrieben Gewerkschaften, aber Arbeitskampf ist nicht das Ding der friedfertigen Ungarn. Infrastruktur und Logistik sind auf einem hohen Niveau angelangt, die gute Qualifizierung der weiterhin kläglich (mit 800 Euro brutto im Landesdurchschnitt) bezahlten ungarischen Arbeitskräfte ist in aller Munde.
Doch haben all diese hofierten Unternehmen auch Geschäftspartner wie Banken oder Energieversorger. Vor vielleicht zwei Jahren sagte der heute das Ministerpräsidialamt leitende János Lázár, wenn die Energienetze zusammenbrechen, kommt auch das Vorzeigewerk von Mercedes-Benz in Kecskemét zum Stillstand. Das war ein Augenblick der Erleuchtung, doch in wenigen Wochen geht vielleicht tatsächlich das Licht aus.
Zumindest hat es der Gesetzgeber bis Mitte Dezember nicht vermocht, die Rahmenbedingungen für 2015 abzustecken. Ein Versorgungsunternehmen, das nicht nach den bizarren Vorgaben auditiert wird, an denen die Regierung zurzeit noch immer bastelt, darf in wenigen Monaten keine Rechnungen mehr an seine Kunden ausstellen. Ohne Abhilfe werden Hunderte Versorger im Verlauf des kommenden Jahres Pleite gehen. Natürlich wird es nicht dazu kommen und auch bei den Autobauern in Kecskemét wird nicht das Licht ausgehen. So wie bei der absurden wie wirklichkeitsfernen Idee mit dem EKAER wird es auch bei diesem Problem in letzter Minute schon wieder irgendeinen Kompromiss geben. Allein die derzeitige Verunsicherung und der Ärger der Betroffenen werden dadurch nicht ungeschehen gemacht. Auch die Kratzer auf dem Sicherheitsgefühl, als Produktionsunternehmen in Orbán-Ungarn mit einem Schutzengel ausgestattet zu sein, werden bleiben.
Natürlich merken die hofierten Multis auch irgendwann, wo ihren Mitarbeitern der Schuh drückt. Ungarn hat die höchste Mehrwertsteuer (27 Prozent), doch wer gut verdient – Multis zahlen im Schnitt ein Fünftel mehr als ungarische Arbeitgeber der gleichen Branche –, kommt im Steuersystem der Orbán-Regierung besser weg, dank niedrigem Einheitssatz der Einkommensteuer von 16 Prozent und üppigen Steuervergünstigungen für Familien. Ein wichtiges Element der Vergütungspolitik stellt die Cafeteria dar, deren Leistungsumfang für viele Arbeitnehmer bis zu zwei Monatsgehälter bedeutet. Die Regierung wollte die Steuern und Abgaben auf Cafeteria-Leistungen ab 2015 aber so radikal anheben, dass es sich für die Unternehmen eher gelohnt hätte, den Mitarbeitern Bargeld zu zahlen – natürlich in der Summe weniger.
Der wieder einmal ohne jegliche Konsultationen vorgebrachte Vorschlag hätte besonders bei Kleinfirmen zu erheblichen Reallohneinbußen geführt und nebenbei dem Aufschwung im Tourismus das Wasser abgegraben. Denn die im Rahmen der Cafeteria aufgelegte SZÉP-Karte für Urlaubsleistungen hatte beträchtlichen Anteil daran, dass der Inlandstourismus in diesem Jahr zweistellig zulegen konnte. Wegen der allgemeinen Entrüstung kam es bei der nachträglichen „Verfeinerung“ der Steuergesetze dazu, dass die SZÉP-Karte zum Jolly Joker gekürt wurde: Oberhalb von 200.000 Forint wird dies nämlich die einzige abrechenbare Leistung sein, die keiner Strafsteuer unterworfen wird.
Konsumieren für mehr Wohlstand
Wer bei diesem Hick-Hack eine klare Linie der Wirtschaftspolitik ausmachen kann, der hat vermutlich den Blick für die ganz großen Zusammenhänge bewahrt. Viktor Orbán will dieses Land zu einem Glanzpunkt Europas machen. Dafür braucht er neben stabilen Staatsfinanzen ein solides Wachstum, denn die ehrgeizigen Pläne wollen finanziert sein. In diesem Jahr gehört Ungarn mit über drei Prozent BIP-Zuwachs zum Spitzenfeld, doch die Investitionen flauen bereits ab, weil keine weiteren Automobilwerke mehr gebaut werden und 2014 Rekordtransfers an EU-Geldern brachte, die sich unmöglich wiederholen lassen. Die Industrie hängt unverändert von der deutschen Konjunktur ab, die doch sehr verhalten wirkt, die Landwirtschaft hat zwei tolle Jahre hingelegt. Der noch von György Matolcsy niedergelegte Generalplan baut tatsächlich auf den Privatkonsum als Wachstumsmotor.
Dabei sind die Visionen des zum Notenbankpräsidenten gewandelten früheren Wirtschaftsministers von 5-7 Prozent Wachstum nie auch nur annähernd umgesetzt worden, während seine ungezählten Sparpakete die zu Konsum aufgerufene Bevölkerung bluten ließen. Die Zinsen schickte er in der Tat in den Keller, so dass ein Leben auf Pump wieder funktionieren würde – nur haben sich die Magyaren für ein, zwei Generationen mehr als nur die Finger an Krediten verbrannt. Die Reallöhne legen auf Volkswirtschaftsebene nicht wirklich zu, wenn die Arbeitslosenstatistik überwiegend durch unterbezahlte Jobs verschönert wird. Dennoch hat die Regierung nicht wenige Maßnahmen mit dem ausdrücklichen Ziel verwirklicht, den Konsum anzukurbeln. Der Einzelhandel wird nach den vorliegenden Statistiken im laufenden Jahr um rund 5 Prozent wachsen, die Menschen lassen schätzungsweise 400 Milliarden Forint mehr in den Geschäften. Um bei einem Bruttoinlandsprodukt von 30.000 Milliarden Forint die Rolle als Wachstumslokomotive zu übernehmen, müsste der Privatverbrauch weiter dynamisiert werden. Der einkaufsfreie Sonntag – auch wieder so eine „spontane Idee“ – wirkt da ganz sicher kontraproduktiv.