Thomas Doll ist nach Lothar Matthäus (2004-2005 ungarischer Nationaltrainer) der prominenteste Deutsche in Ungarns Sportwelt. Er ist nach Engagements in der Türkei und Saudi-Arabien seit Dezember 2013 Trainer des Budapester Traditionsvereins Ferencváros („Fradi“). Wir trafen ihn noch vor dem jüngsten Sieg Ungarns gegen Finnland, um über Budapest, deutsch-deutsche Vergangenheit und natürlich Fußball zu reden.
Wie gefällt Ihnen Budapest?
Eine wunderschöne Stadt. Jeder, der mich hier besucht hat, ist mit tollen Eindrücken nach Deutschland zurückgekehrt. Meine Freundin ist Künstlerin mit Atelier in Hamburg, sie kommt gerne hierher. Budapest hat sich toll entwickelt, seit ich in jungen Jahren hier war. Ich lebe in der Innenstadt, kriege das Leben mit und mag das Donauufer, das erinnert mich an die Elbe. Für einen Fußballtrainer ist aber sowieso das Wichtigste, wie die Trainingsbedingungen sind, wie man beim Verein arbeitet. Wir haben vor Kurzem ein neues Stadion bekommen, können also sehr zufrieden sein.
Was wussten Sie vor Ihrer Ankunft über Ungarn und seinen Fußball?
Über den aktuellen so gut wie nichts. Die wenige Aufmerksamkeit, die etwa Videoton Székesfehérvár in der Europaliga bekam, war schnell wieder weg, am Ende interessiert sich jeder nur für die Champions League. Als Ostdeutscher kenne ich natürlich Fradi von früher sehr gut. Ich habe oft in Ungarn, Bulgarien und Rumänien gespielt, weil wir wegen den politischen Umständen nirgendwo anders hinkonnten. Daher habe ich eine ganz andere Verbindung als vielleicht jemand aus dem Westen. Die ungarische Liga (NB1) und Nationalmannschaft gaben in letzter Zeit nicht viel Anlass, um sie zu verfolgen, weil sie international kaum auffielen. Die wenigen Spieler, die international erfolgreich waren, kannte ich, aber die haben auch keinen signifikanten Unterschied gemacht.
Wie bewerten Sie das aktuelle Niveau?
Wenn Ungarns Spitzenteams wie etwa Fradi, Debrecen oder Videoton einen guten Tag erwischen, dann können sie das Niveau der Bundesligen bringen, aber im Schnitt ist die ungarische Meisterschaft noch weit entfernt von der 1.Bundesliga. HNK Rijeka aus Kroatien würde in der Bundesliga keine große Rolle spielen, für uns aber ist das eine große Herausforderung (Fradi schied dieses Jahr in der Qualifikation zur Europa League gegen die kroatische Mannschaft aus; Anm.). Obwohl wir zum Teil enge Resultate hatten, hatte es noch nicht gereicht, da müssen wir uns nichts vormachen. Ich glaube es wäre momentan für jedes ungarische Team schwierig, in der Europa League zu bestehen.
Ist ein solches Umfeld nicht ernüchternd? Auch dass in ein 23.000 Zuschauer fassendes Stadion im Schnitt nur wenige tausend Zuschauer kommen?
Die Unterstützung wird noch kommen. Das Problem ist, dass wir keine Stars holen können. In Deutschland ist das normal, dort gibt es in vielen Mannschaften Starspieler, weshalb auch das Niveau sehr hoch ist. Hier braucht man einfach Zeit, was für mich nicht frustrierend ist, weil ich weiß, wie schwer es ist, ablösefreie Spieler zu bekommen. Wir können keine großen Gelder für Spieler ausgeben, wie das Videoton vor ein paar Jahren gemacht hat, um in der Meisterschaft und international erfolgreich zu sein, wir haben keinen reichen Investor im Rücken. Wir hatten gerade ein Meeting mit dem Präsidium, wo wir auch über unsere Scouting-Aktivitäten gesprochen haben. Selbst wenn wir bei jemandem anfragen – hat derjenige tatsächlich Lust, jetzt in die NB1 zu kommen? Oder geht er lieber nach Spanien, Frankreich, Portugal? Von England und Deutschland gar nicht zu sprechen. Eines Tages, wenn die ungarische Liga wieder aufblüht, werden Transfers vielleicht möglich sein.
Angesichts der Tatsache, dass Fußball unter der Regierung von Viktor Orbán zu einer Sportart erklärt wurde, die besonders zu fördern ist, muss der Trainerjob in Ungarn doch traumhaft sein. Merken Sie davon etwas?
Das merkt man schon bei unserem Präsidenten Gábor Kubatov (auch Fidesz-Parteidirektor und -Abgeordneter; Anm.): Er schafft hier Strukturen, baut die Mannschaft mit auf, hat den Bau des neuen Stadions und eines neuen Trainingsgeländes in die Wege geleitet, das in ein paar Jahren nochmals erweitert wird. Ich weiß natürlich nicht, wie Kooperationen mit Sponsoren oder der Politik zustande kommen, für einen Trainer ist aber auch gar nicht entscheidend, wo die Mittel herkommen. Entscheidend ist, dass das eine oder andere zur Verfügung gestellt wird, und da sind wir auf einem guten Weg, denn wir können Spielern eine Perspektive mit einem vernünftigen Gehalt bieten. Wir haben einen starken Mann an der Spitze, der mit Herzblut dabei ist, nicht nur in seiner Partei, sondern auch bei uns. Das habe ich gleich bei meinen ersten Gesprächen mit der Vereinsführung im Dezember 2013 gespürt. Ich hatte sofort ein sehr gutes Gefühl, das auch heute noch da ist.
Wie funktioniert der Spielernachschub?
Wir müssen das Scouting-System erst neu aufbauen, es reicht nicht, drei-vier Mann in verschiedenen Regionen einzustellen, die gar nicht genau wissen, worum es geht. Wir haben zwar schon zwei ungarische Nachwuchskoordinatoren, überlegen aber, vielleicht noch jemanden aus Deutschland zu holen, der mit den dortigen Nachwuchsleistungszentren groß geworden ist. Der Nachwuchs ist mit Herz bei der Sache und kann auch was am Ball, aber im internationalen Vergleich hat er gar keine Chance, weil ihm in jungen Jahren keine Koordination oder Dynamik vermittelt wurden.
Wie sehen Sie die Akademien?
Ich weiß nicht, wie dort gearbeitet wird. Die Jungs brauchen auf jeden Fall eine Top-Ausbildung, wofür auch gut ausgebildete Trainer und Strukturen nötig sind. Man muss auch mal in Schulen gehen, um das Vormittags- und Individualtraining organisieren zu können, man muss ihnen wie bei den DFB-Stützpunkten weitere Trainingseinheiten bieten. Auch auf dem Land, denn nicht jeder kann gleich in jungen Jahren bei Fradi trainieren, wohin man stundenlang anreisen müsste. In Deutschland hatte man auch ein Nachwuchsproblem, als man nach der EM 2004 am Boden war und in diesem Bereich mit dem Umdenken anfing. Anfangs gab es dort auch nur Spieler mit Amateurliga-Potenzial. Wir wollen mit meinem Co-Trainer Ralf Zumdick auf keinen Fall jetzt, wo Deutschland Weltmeister ist, ankommen und sagen, wo‘s lang geht. Stattdessen wollen wir uns mit allen zusammensetzen, sie ins Boot holen und unsere Erfahrungen teilen, um das gesamte Paket zu professionalisieren. Wenn jemand in jungen Jahren zu langsam oder zu schwach ist, soll er gerne weiter spielen, aber nicht unter dem Leistungsdruck, den wir irgendwann aufbauen wollen.
Was fehlt dem ungarischen Nachwuchs?
In Deutschland laufen 18-Jährige vor 80.000 Zuschauern auf, als ob es das Normalste der Welt wäre. Die haben Selbstbewusstsein und treten sicher auf, das müssen die Spieler hier erst noch lernen. Auch mal Fehler machen zu dürfen, mal anzuecken. Hier steckt das noch in der Mentalität: Bloß nicht auffallen, sonst kriege ich gleich noch einen auf den Deckel. Wenn man selbstbewusst ist, dann ist es egal, ob man vor 5.000 oder 50.000 Zuschauern spielt und macht sich nicht klein, wenn man den Ball bekommt. Solche mentalen Dinge haben wir in Deutschland neben dem Technisch-sportlichen und Taktischen gelernt, da müssen wir hier irgendwann hinkommen. Der DFB ist einer der reichsten Verbände der Welt mit Nachwuchsstützpunkten und hauptamtlichen Trainern. Hier haben wir Trainer, die erst nach ihrer Arbeit um fünf Uhr nachmittags herkommen und sich dann noch Gedanken über das Training machen müssen. Dennoch muss der Nachwuchs richtig ausgebildet werden, ohne Dynamik bringt die beste Technik nichts, heute zählt Schnelligkeit. Warum sollte ein 7-Jähriger Ungar langsamer sein als ein Deutscher? Anfangs sind das alles Kinder mit natürlichen Bewegungsabläufen. Es muss also in späteren Jahren etwas falsch laufen. Taktisch haben einige ungarische Spieler dazu gelernt, wenn sie auch noch Vertrauen in ihren Körper, ihre Athletik und Dynamik haben, dann werden das Spiel und der ungarische Fußball wieder ganz anders aussehen.
Welche Erwartungen ruhen auf Ihnen?
Unser Verein möchte die nächsten Schritte machen, zunächst einmal sollten wir beständig unter den ersten drei der Meisterschaft sein. Meister zu werden und Champions League zu spielen wäre schön, aber eins nach dem anderen. Wir wollen selbst Druck aufbauen, wir haben keine Lust um Platz 5 oder 6 zu spielen. Europa League-Qualifikation, vielleicht mit Glück und mehr Qualität diese überstehen und für die Gruppenphase anklopfen. Im Moment wäre es nicht förderlich, zwischen den Ligaspielen gegen haushohe Favoriten im Ausland zu spielen und auseinander genommen zu werden. Erst muss die Qualität erhöht werden, um irgendwann für höhere Wettbewerbe bereit zu sein. Viele, die nur in Ungarn gearbeitet und internationale Wettbewerbe nicht live gesehen haben, können sich die Unterschiede gar nicht vorstellen.
Das Präsidium hat Geduld?
Ja, weil sie sehen, dass wir engagiert dabei sind, dass hier eine Handschrift zu sehen ist, dass wir mit den Jungs viel taktisch arbeiten und sprechen, dass eine Vertrauensbasis aufgebaut wurde. Dennoch müssen wir Leistung abliefern.
Wie kommunizieren Sie mit der Mannschaft?
Ich spreche meistens Deutsch und gebrochenes Englisch, die meisten verstehen Deutsch. Wir haben deutschsprachige Spieler und einige, die im deutschsprachigen Raum gespielt haben. Zur Not übersetzt unser zweiter Co-Trainer.
Sie sprechen von einem langfristigen Aufbau der Mannschaft und des Nachwuchses, wie lang läuft Ihr eigener Vertrag?
Bis 2015, es gibt aber schon Gespräche bezüglich Verlängerung. Ralf und ich können uns ein längeres Engagement sehr gut vorstellen, bisher hat die Arbeit Spaß gemacht, wir können helfen, etwas aufzubauen, und es gibt Perspektiven.
Stehen Sie in Kontakt zu Lothar Matthäus oder zur deutschen Community?
Ich habe ihn zweimal zufällig hier getroffen. Weitere Kontakte sind noch im Aufbau – aber jetzt habe ich ja euch von der Budapester Zeitung kennengelernt! Ich kenne das von meinen anderen Auslandsaufenthalten, es ist schön, andere Deutsche im Ausland zu treffen. Mal sehen, wie sich das Leben hier entwickelt, man kann es ganz gut hier aushalten. Ich wohne im VI. Bezirk, leider ist es von Donnerstag bis Sonntag Nacht sehr laut. Ich verstehe nicht, warum dort keine Rendőrség ist. Ich komme morgens aus dem Haus und sehe, dass Autospiegel abgebrochen, Mülleimer zerstört und entleert, zerbrochene Flaschen auf der Straße sind. Überall ist die Rendőrség – nur nicht bei mir in der Straße! Ich habe ja nichts gegen Singen und Lachen, aber überall kaputte Mülleimer und Glasscherben akzeptiere ich nicht.
Dieses und nächstes Jahr feiern die Grenzöffnung und der Mauerfall 25-jähriges Jubiläum. Wie war 1989/90 für Sie?
Leipzig, Sportschule, Vorbereitung auf das WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich, im TV die Bilder gesehen, im ersten Moment nicht geglaubt, im zweiten einen Wermut geöffnet, im dritten nachgedacht, was alles auf uns zukommen wird. Wartet die Bundesliga, die französische oder schottische Liga? Wir konnten uns von den Gedanken nicht frei machen, weshalb wir gegen Österreich verloren (0:3 in der Qualifikation zur WM 1990; Anm.). Die Wiedervereinigung war aber ein großer Moment.
Sie gehören zu den Spielern, die erst in der DDR- und danach in der BRD-Auswahl gespielt haben.
Ja, ich debütierte im März 1991 in Frankfurt gegen Russland und war zwei Jahre lang Stammspieler. Dazu eine kleine Anekdote: Mein Flug hatte Verspätung, daher kam ich zu spät zum gemeinsamen Mittagessen im Quartier der Nationalmannschaft in Stuttgart. Im Speiseraum saßen bereits alle, es war nur noch ein einziger Platz frei am Tisch von Lothar Matthäus, Rudi Völler und Andi Brehme. Und da kommt der kleine Ossi rein, grüßt Trainer Berti Vogts, klopft überall auf die Tische und setzt sich zu den drei Weltmeistern. Ich habe die ersten zwei Minuten nicht nach oben, sondern nur auf meinen Teller geschaut (lacht). Danach wurde es aber ganz locker, gelebte Wiedervereinigung sozusagen.
Gab es einen Unterschied von der DDR- zur BRD-Auswahl?
Eigentlich nicht, ich habe auch gerne für die DDR gespielt. Bei der BRD-Auswahl war das mediale Interesse natürlich größer, wir wurden auch besser mit Trainingskleidung und Essen versorgt. Ich kann aber nicht sagen, dass ich stolzer war. Es gab mal den einen oder anderen Ossi-Spruch von Mannschaftskollegen aus Spaß, aber wir im Osten sind ja auch nicht auf den Mund gefallen. Wir haben uns untereinander mit Andreas Thom oder Matthias Sammer selbst „Ossi“ genannt. Dadurch, dass wir in der Nationalmannschaft und auch in unseren Vereinen gute Leistungen gebracht haben, war das kein Schimpfwort. Mit einigen von ihnen spiele ich noch in der Traditionsmannschaft zusammen, wir sehen uns auch gerne bei Veranstaltungen wieder. Oder bei Spielen, denn andere sind auch Trainer. Wir sind eine Fußball-Familie.
Das Interview führten Daniel Hirsch und Peter Bognar