Wer in Budapest lebt, der kommt derzeit nicht umhin festzustellen, dass politische Demonstrationen sich dieser Tage häufen. Die Themen sind unterschiedlich, die Teilnehmer ebenso, doch eint sie ein Gefühl: die Unzufriedenheit mit den hiesigen Zuständen.
Einer der Gesichter dieser neuen Demonstrationswelle ist Gábor Vágó. Der ex-LMPler mit dem markanten Schnauzbart steht als Organisator hinter der Demonstration am vergangenen Sonntag. In einem Interview mit dem Nachrichtenportal index.. hu beschreibt er, was vielen Teilnehmern auf den Demonstrationen der vergangenen Wochen aufgefallen ist. Auch er habe Bekannte, die noch nie demonstrieren waren, nun aber, durch die Ereignisse und Entschlüsse der Regierung in der letzten Zeit sich einfach genötigt fühlten, auf die Straße zu gehen. Doch Vágó sieht noch einen weiteren Grund für die stetig wachsende Zahl der Teilnehmer auf oppositionellen, aber nicht parteigebundenen Demonstrationen. Mit der Rücknahme der Internetsteuer hat sich gezeigt, dass die Zivilgesellschaft sehr wohl etwas verändern kann. Dieser Glaube an den Einfluss der Zivilsphäre fehlte bisher vielen Menschen. Hinzu kommt, dass es auch innerhalb des Fidesz zu offenen Widersprüchen kommt. Während die nationalkonservativen Regierungsparteien aus Fidesz und KDNP früher geschlossen wie ein Mann hinter allen Entscheidungen stand, bröckelt der Zusammenhalt. Egal, ob Internetsteuer, die Causa Vida oder die Frage der Sonntagsöffnungszeiten, eine einheitliche Kommunikation, geschweige denn Strategie ist nicht zu erkennen.
Ähnlich wie bei der Rücknahme der Internetsteuer ist der Zeitpunkt, an dem die Regierung noch ihr Gesicht hätte wahren können, für viele Demo-Aktivisten bereits vergangen. Denn es geht hier nicht mehr nur um Ildikó Vida und ihre Steuerbehörde. Dort hätte sich, so Vágó, das Demszky-Syndrom breitgemacht. Gegen Ende seiner Amtszeit war auch der Oberbürgermeister nicht mehr Herr über seine Angestellten, ihm vorgelegte Papiere unterschrieb er ohne Nachfrage. Ähnlich verhält es sich jetzt auch mit NAV-Chefin Vida, weshalb, so ist sich Vágó sicher, ihr Rücktritt allein nichts an den herrschenden Zuständen ändern würde.
Erfolgsrezept: Keine Parteien
Was ebenfalls neu an den Demonstrationen ist, ist die auffällige Zurückhaltung der etablierten Parteien. Obwohl sonst behände, wenn es darum geht, sich an die Spitze einer zivilen Bewegung zu stellen – und damit in den meisten Fällen jedes Aufkommen von demokratischem Meinungsaustausch im Keim zu ersticken – sind diesmal MSZP, DK und Co. auffällig still. Zwar versuchte die Gyurcsányi-Partei noch auf den Zug der Anti-Internetsteuer aufzuspringen und initiierte eine Unterschriftensammlung, doch ging diese gänzlich unter angesichts der mehr als 100.000 Demonstranten auf der Straße. Und es werden immer mehr, die Demonstrationen häufen sich. Für die kommende Woche Montag ist die zweite Anti-Internetsteuer-Kundgebung angesetzt. Wer glaubt, dass diese durch die Rücknahme der Steuer obsolet geworden ist, der irrt gewaltig. Mehr denn je hat sich in den ungarischen Bürgern der Drang etwas zu verändern formuliert.
Wie auch bei der Demonstration am vergangenen Sonntag, bei der es offiziell um Ildikó Vidas Rücktritt ging, aber doch viel mehr dahinter stand, hat der 17. November, der Tag der Öffentlichen Empörung, wie er genannt wird, schon jetzt das Potential, Geschichte zu schreiben. Denn dass die Menschen ihrem Unmut nicht nur auf der Straße Luft machen, wird deutlich, betrachtet man die jüngsten Meinungsumfragen. Das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut Nézőpont veröffentlichte die neusten Umfrageergebnisse. Nach den Demonstrationen gegen die Internetsteuer verlor die Regierungskoalition aus Fidesz und KDNP ganze drei Prozentpunkte an Zustimmung. Damit fiel der Zuspruch für die Regierungskoalition unter allen Wählern erstmals seit langer Zeit auf unter 30, von 32 auf 29 Prozent Auch im Kreis der Wähler, die sicher zur Wahl gehen, büßte die Koalition Fidesz-KDNP Prozentpunkte ein und erzielte nicht mehr 43 sondern nur 40 Prozent. Die Oppositionsparteien links und rechts des Fidesz scheinen mit ihrer Strategie der Zurückhaltung gut zu fahren. Sowohl die Ökopartei LMP (Eine andere Politik ist möglich) als auch die rechtsextreme Partei Jobbik konnten drei Prozentpunkte zulegen und kommen so auf fünf beziehungsweise 14 Prozent. Auch die MSZP und Gyurcsány-Partei DK konnten jeweils einen Prozentpunkt an Boden gutmachen und verzeichnen so sieben respektive sechs Prozent Zustimmung. Der nicht mehr existierende Parteizusammenschluss “Gemeinsam-Dialog für Ungarn” stagniert derweil bei einem Prozent.
Mit Spannung wird jetzt der 17. November erwartet. Sollten auch hier wieder Tausende Demonstranten auf die Straße ziehen, muss sich die Regierung von Viktor Orbán warm anziehen.