Tanz und Akrobatik sind Kunstformen, die sich meistens in unterschiedlichen Dimensionen bewegen – die eine auf dem Boden, die eine in der Luft. Was für Möglichkeiten sich öffnen, wenn man diese Grenze überschreitet, zeigen die Künstler des offline:ontheater und Simorág TánCirkusz – beim Vertikalen Tanz scheinen die Grenzen der Schwerkraft aufgehoben. Verbunden mit physischem Theater, Jonglage und Musik und mithilfe faszinierender Bühnenbilder stellen sie eine der interessantesten Künstlergruppen Budapests dar. Die Budapester Zeitung sprach mit den Leitern der Gruppen, Ben Glass und Ágnes Simor.
Das offline:ontheater gründete Ben Glass zusammen mit seinem Bruder Christof Glass im Jahr 2001 – damals noch in seiner schweizerischen Heimat. Als Ben Glass für seine Akrobatenausbildung nach Budapest kam, führte er das Projekt hier fort. Im Jahr 2013 trat Ágnes Simor, die frühere Leiterin des alternativen Theaters Tűzraktér, mit ihrer Artistengruppe Simorág TánCírkusz dem offline:ontheater bei. In beiden Artistengruppen treten größtenteils die gleichen Mitglieder auf – dennoch liegt der Fokus jeweils etwas verschieden: Während sie unter dem Namen offline:ontheater große Projekte mit riesigen Bühnendekorationen verwirklichen, mit denen die Gruppe aufgrund des Aufwands trotz jahrelanger Vorbereitung verhältnismäßig selten auftritt, bietet der Simorág TánCirkusz ihnen die Möglichkeit, flexibler und in kleinerem Rahmen ihre Kunst zu zeigen. „Aber im Grunde sind wir mittlerweile eine Gruppe, die eben aus zwei Teilen besteht, welche uns die Möglichkeit geben, verschiedene Richtungen auszuprobieren“, so Simor.
Die Mitglieder der Gruppe kommen aus den unterschiedlichsten Disziplinen – es gibt Akrobaten, Tänzer, Schauspieler und auch einen Industriekletterer. „Wir bauen den Zirkus aus sehr verschiedenen Menschen auf, das ist uns sehr wichtig – gerade im Vergleich zu anderen Gruppen, die etwa nur aus Schauspielern oder nur aus Tänzern bestehen“, sagt Glass. Gerade die Vorstellungen des Simorág TánCirkusz sind von dem Miteinander verschiedener Kunstformen geprägt. „Ich möchte gewissermaßen auf den Grenzen tanzen und mit ihnen spielen“, sagt Simor.
Bei aller Verschiedenheit achten sie aber auch darauf, dass ihre Stücke jeweils von einer gemeinsamen Bewegungsart geprägt sind, die alle Teilnehmer beherrschen. Bei „torony“ (Turm) steht so das Klettern im Vordergrund; für das japanische Märchen „A napisten unokája és a tengeri sárkány lánya“ (Die Enkelin des Meereskönigs und die Tochter des Seedrachen) nahmen alle Mitglieder Unterricht im japanischen Kampfsport Aikido.
Auch Erwachsene von Märchen fasziniert
Ágnes Simor zeigt sich von den kreativen Möglichkeiten, die das Aufführen von Märchen ermöglicht, begeistert: „ Das Schöne an der Phantasiewelt im Märchen ist, dass wirklich alles geschehen kann und die Darstellung ganz natürlich aus den Figuren und der Geschichte kommt. Wenn einem Drachen seine Köpfe abgeschlagen werden, kann daraus ganz natürlich eine Jonglagenummer entstehen.“ Die Märchen sind dabei nicht nur etwas für Kinder. „Auch Erwachsene sind von unseren Märchen fasziniert“, so Simor. „Unsere Stücke besitzen verschiedene Ebenen, von denen sich ein Teil an Kinder, ein Teil an Erwachsene richtet. Aber es ist auch etwas Besonderes, vor Kindern aufzutreten – ich mag es sehr, wenn sie ins Stück hineinreden und ganz in der Geschichte aufgehen.“
Die Akrobaten des offline:ontheaters bewegen sich oft in halsbrecherischen Höhen, etwa wenn sie im Stück „torony“ auf einer acht Meter hohen Eisenkonstruktion über dem Wohnwagen, der das Zentrum des Bühnenbildes bildet, turnen, tanzen oder auch jonglieren. Wenn man Ben Glass fragt, gehört ein gewisses Risiko zu einer guten artistischen Nummer dazu: „Ich bin der Meinung, wenn eine Nummer schwierig oder gefährlich ist, dann sehen das auch die Zuschauer, und es überzeugt sie. Deshalb ist mir im Grunde sehr wichtig, dass auch eine Gefahr da ist. Aber am Ende darf man natürlich nicht herunterfallen.“
Tänzerischer Stadtrundgang geplant
Kennengelernt haben sich Glass und Simor über ihr gemeinsames Interesse am Vertikaltanz – einer Form der Luftakrobatik, bei der sich die Tänzer über Klettergurte gesichert auf der Senkrechten an einer Wand entlang bewegen. Diese Faszination besteht für beide weiter, und im kommenden Jahr möchten sie eine Art tänzerischen Stadtrundgang in der Luft realisieren, bei dem sie hoch über Straßen und Plätzen an markanten Budapester Häusern auftreten, während die Zuschauer am Boden folgen. Derzeit sind sie dafür auf der Suche nach Häusern, die sich technisch für das Projekt eignen, aber auch eine interessante Geschichte besitzen, die sich künstlerisch darstellen lässt.
Seit Simors Beitritt zum offline:ontheater arbeiten beide eng zusammen: Während Glass für die Technik verantwortlich ist und an den oft aufwendigen Bühnenbildern arbeitet, ist Simor für die Organisation zuständig. Aber auch gerade auf der kreativen Ebene ist die Kooperation der beiden entscheidend: „Ich baue unsere Bühnenbilder oft nach meinem Gefühl, kann aber nicht immer in Worten ausdrücken, was die Konstruktionen wirklich aussagen“, so Glass. „Ágnes hilft mir, diese Ideen auszuformulieren – die thematische Botschaft, die in den Stücken steckt, zu finden. Alle unsere Stücke entwickeln sich so über die Jahre weiter. Die Vorstellung wächst, und auch wir wachsen daran. Auch die Artisten bringen ihre Arbeit ein und so bauen wir das Stück weiter.“
So ist etwa das Stück „torony“, dessen erste Version Glass im Jahr 2011 schuf, in einer stetigen Entwicklung begriffen. Den namensgebenden Turm bildet ein Eisengerüst, das gleichsam aus dem Wohnwagen, der das Bühnenbild beherrscht, herauswächst – er bildet die Bühne für eine Melange aus Tanz und Akrobatik, bei der die Grenzen der Schwerkraft aufgehoben zu sein scheinen. In den ersten Versionen des Stückes lag der Fokus noch auf der Installation und der Artistik an sich. Seitdem hat sich auch eine klarere Thematik ausgearbeitet: Mit dem Untertitel „Menni vagy maradni“ (Gehen oder Bleiben) spricht das Stück die Auslandsflucht vieler gerade junger Ungarn an, die wegen der wirtschaftlichen Situation gezwungen sind, im Ausland eine Zukunft aufzubauen.
Dieser thematische Ansatz wird bei der im Sommer 2015 anstehenden nächsten Weiterentwicklung des Stückes noch stärker im Fokus stehen, für die sich das offline:ontheater erfolgreich um finanzielle Unterstützung durch die NGO Ökotars beworben hat. Das Thema „Gehen oder Bleiben“ soll dafür über die rein künstlerische Ebene hinaus noch umfassender untersucht und ausgedrückt werden. Auch das Publikum wollen Simor und Glass einbeziehen, sodass die Zuschauer die Chance bekommen, ihre eigenen Erfahrungen mit dem Thema Auslandsflucht zu teilen. Geplant ist eine Tournee durch verschiedene ungarische Städte, in denen die Gründe für das Weggehen herausgearbeitet werden sollen. Dafür will das offline:ontheater mit verschiedenen Zivilorganisationen sowie mit Soziologen, Psychologen und Filmemachern zusammenarbeiten. „Uns interessieren die Gründe, warum die Menschen das Land verlassen“, so Simor. „Wir möchten die jeweiligen ortsspezifischen Antworten herausarbeiten und versuchen, daraus ein Gesamtbild herzustellen.“
Tournee als Wunschprogramm
Somit steht beim offline:ontheater im kommenden Jahr mit Sicherheit eine spannende Spielzeit bevor. Darüber hinaus möchte Ben Glass seine Vision weiter vorantreiben: „Der Vertikale Tanz und der zeitgenössische Zirkus reizen mich sehr, auf diesem Gebiet möchte ich weiterarbeiten. Es wäre auch schön, einmal eine große Tournee realisieren zu können, bei der wir auch im Ausland spielen. Und natürlich ist der Wunsch da, das auf Profi-Niveau zu machen und von der Akrobatik leben zu können.“ Ágnes Simor dagegen möchte sich nicht zu sehr festlegen: „Wir planen unsere Vorstellungen ja sowieso schon ein bis zwei Jahre im Voraus – darüber hinaus möchte ich einfach den Dingen ihren Lauf lassen.“
Der nächste Auftritt folgt für die Gruppe am 9. November. Dann tritt der Simorág TánCirkusz mit dem Märchen „Ember tenyerében, dinnyének magjában“ (Im Handteller eines Menschen, im Kern einer Melone) im Bethlen Téri Színház auf.