Mehrere Zehntausende demonstrierten am heutigen Sonntagabend in Budapest gegen die von der Regierung geplante Internetsteuer. Vom József Nádor tér, wo vor dem Gebäude des Volkswirtschaftsministeriums eine Kundgebung stattfand, ging es später auf dem von Menschen in Länge und Breite ausgefüllten Andrássy út Richtung Hősök tere und Sitz der Regierungspartei Fidesz in der Lendvay utca.
Dort erklangen immer wieder lautstarke Sprechchöre gegen Premier Viktor Orbán, den Fidesz und die vorgesehene Abgabe. Die vom Veranstalter ursprünglich geplante, friedliche Aktion, mitgebrachten Elektroschrott wie alte Tastaturen, Monitore und Kabel symbolisch vor dem Fidesz-Sitz niederzulegen, verlief allerdings anders als geplant: Aufgrund der riesigen Menschenmenge konnten sich nur wenige Demonstranten direkt dem Gebäude nähern – und so schmissen viele Maus und Co. schlichtweg von einigen Metern entfernt gegen die Gebäudewand, ein Gebäudefenster und auf einen Balkon des Fidesz-Sitzes, was entsprechende Schäden nach sich zog (siehe Foto weiter unten). Die mehreren Dutzend Polizisten vor dem Gebäude griffen circa eine halbe Stunde lang überhaupt nicht ein, auch dann nicht, als ein Rolladen des Hauses zu Bruch ging und Demonstranten den Balkon am Gebäudeeck erklommen – manche von ihnen, um dem Geländer eine Europaflagge anzulegen oder eine solche dort zu schwenken, andere, um die Balkontür mit Gewalt einzutreten.
Noch vor dem „Sturm“ des Fidesz-Hauptquartierts stellten die Redner der Demonstration vor dem Ministerium Forderungen an die Regierung, so beispielsweise, dass die Internetsteuer binnen 48 Stunden vom Tisch sein sollte. Andernfalls, wäre klar, dass „wenn Viktor Orbán auf den Protest so vieler Menschen hier nicht reagiert, vertritt er nicht das Volk“. Auch das derzeit heftig diskutierte Gerücht, die Idee zur Internetsteuer käme direkt vom Premier selbst (lesen Sie mehr dazu in der kommenden Ausgabe der BZ), wurde aufgegriffen und damit erklärt, Orbán wolle damit Rache nehmen, schließlich sei er nicht einmal in der Lage eine Email selbst zu senden. Ein anderes Gerücht besagt, dass mit den neuen Einnahmen eine geplante Lohnerhöhung für Polizeibeamte gedeckt werden soll.
Wenige Randalierer unter den friedlichen Protestierenden
Die Mehrheit der Randalierer machten indes Rechtsradikale und/oder Hooligans aus, wie rechte Symbole an ihrer Kleidung zu erkennen ließen. Viele von ihnen vermummten ihre Gesichter, sangen rechte Parolen („Ria-ria-Hungária“) und beschmipften laut Medienberichten beispielsweise die Mitarbeiter des Fernsehsenders ATV mit judenfeindlichen Sprüchen. Ein Kameramann von Hír TV wurde sogar mit Wasser überschüttet, worauf dieser noch in der Nacht Anzeige gegen Unbekannt erstattete. Die Randalierer könnten von einer am Nachmittag auf dem Kossuth tér vor dem Parlament abgehaltenen Demo der Fußballultras gegen härtere Einlasskontrollen an den Stadien zu der Demonstration gegen die Internetsteuer hinzugestoßen sein. Obschon sie die einzigen aggressiven Demonstrationsteilnehmer darstellten, waren sie nur ein Bruchteil der riesigen, friedlich protestierenden Menge.
Auch einige bekannte Gesichter waren in der Menge der Demonstrierenden zu sehen. Neben dem Publizisten Róbert Puzsér war beispielsweise auch der Geschäftsträger der US-amerikanischen Botschaft in Budapest, André Goodfriend, zugegen, wie die linksliberale Tageszeitung Népszabadság schrieb. Und auch Gábor Demszky, zwischen 1990 und 2010 OB Budapests, nahm an der Demonstration teil. André Goodfriend und Zoltán Kovács, internationaler Sprecher der Regierung, lieferten sich noch am Abend einen erhitzten Wortwechsel über den Kurznachrichtendienst Twitter. Kovács fragte dort in einem leicht süffisantem Ton: „Kleiner Stimmungscheck auf der von MSZP und „Liberalen“ organisierten Demo? Als Geschäftsträger? Eh?“ Goodfriends Antwort kam prompt: „Ich habe mich auch auf den (regierungsnahen; Anm.) Friedensmärschen und diversen anderen in Ungarn organisierten Veranstaltungen umgesehen.“ Der Dialog wurde noch fortgesetzt, wobei Zoltán Kovács zur allseitigen Verwunderung immer mit „Eh?“ beantwortete. (Dies mag eine Anspielung auf eine Floskel aus dem kanadischen Sprachgebrauch sein, lässt aber die Frage offen, warum der amerikanische Geschäftsträger damit bedacht wird.)
Fidesz verurteilt Gebäudebeschädigungen
Gegen 21 Uhr hatte der Großteil der Demonstranten den Heldenplatz nach knapp drei Stunden des größtenteils friedlichen Protestierens verlassen. Einige Hundert kamen noch zusammen, um die Ungarische Nationalhymne zu singen. Um den Fidesz-Sitz in der Lendvay utca war es nun bereits ruhig geworden. Die Regierungspartei zögerte trotzdem nicht, den für sie im und am Gebäude entstandenen Schaden sofort zu dokumentieren und in einem Post auf Facebook zu verurteilen: Die Partei höre gern und geduldig diejenigen an, die in jedweder Frage eine Gegenmeinung haben, heißt es darin unter anderem. „Gewalt sei jedoch in vollem Umfang inakzeptabel.“ Man sei bestürzt, dass die abendliche Demonstration in Vandalismus gemündet habe. „Gewalt stellt für nichts eine Lösung dar – wir brauchen nicht Vandalismus, sondern einen friedvollen Dialog.“
Lesen Sie hier und hier sowie in der nächsten Ausgabe der Budapester Zeitung mehr über die Hintergründe der Internetsteuer.
UPDATE:
Die Taten der wenigen Randalierer blieben nicht ohne Folgen, sechs Männer im Alter zwischen 19 und 35 Jahren sind im Anschluss an die Proteste vor der Fidesz-Parteizentrale festgenommen worden, teilte die Polizei in der Nacht auf Montag mit. Die Behörde leitete gegen sie ein Verfahren wegen Sachbeschädigung und Landfriedensbruchs ein, hieß es weiter.