Budapest mag, im Gegensatz zu Barcelona oder Köln, nicht den Ruf einer besonders homosexuellenfreundlichen Stadt haben. Dieses Image verstärkt sich insbesondere angesichts der in den letzten Jahren erstarkenden politischen Rechten. Dennoch entscheiden sich fortlaufend viele liberal gesinnte und gar queere Nicht-Ungarn, in diesem faszinierenden, kulturell reichhaltigen Land zu leben. Einer von ihnen ist der 36-jährige Chris Clarke aus Brighton.
Mae, Lola und Frida, die Hunde von Chris und seinem Freund Igor, sitzen friedlich auf der Couch und sehen aus dem Fenster, während der Hausherr Tee serviert. Es ist echter Schwarztee aus England. „Das Klischee stimmt, wir Briten trinken wirklich sehr viel Tee“, sagt Chris lachend. „Und obwohl der ungarische Schwarztee sicher genau gleich schmeckt, muss es für uns eben der original englische sein.“ Chris stammt aus Brighton im Süden Englands, das den Ruf einer besonders offenen Stadt innehat: „Man nennt Brighton auch die schwule Hauptstadt Englands“, erklärt der Wahl-Budapester. „Natürlich ist es da ein Unterschied, in einer sehr toleranten Stadt aufzuwachsen und dann in eine verschlossenere Stadt wie Budapest zu ziehen.“ Trotzdem fühlt sich der Engländer hier wohl.
Seit 2004 kam er aufgrund seiner Arbeit regelmäßig nach Budapest, 2011 zog Chris aber gänzlich in die ungarische Hauptstadt. „Ich habe mich in Budapest verliebt, da es klein ist, in der Innenstadt erreicht man alles zu Fuß und auch kulturell wird einem hier viel geboten. Außerdem hatte ich mir hier über die Jahre einen Freundeskreis aufgebaut.“
Chris besitzt eine eigene Firma im HR-Bereich und beschäftigt sich somit hauptsächlich mit Personalbeschaffung. Europaweit hat er insgesamt 36 Agenten, unter anderem in Budapest und Bratislava, welche die potenziellen Job-Kandidaten persönlich treffen. Chris selbst ist es deshalb möglich, von überall aus zu arbeiten. Alles was er braucht, sind Internet- und Telefonanschluss. Nachdem Chris fest nach Budapest gezogen war, machte er nochmals für knapp zehn Monate Zwischenstation in Portugal. In dieser Zeit kam ihm eine überraschende Erkenntnis: „Ich vermisste Budapest, Großbritannien aber nicht. Das war komisch, und ich hatte es nicht erwartet.“ Inzwischen wohnt Chris seit einigen Monaten zusammen mit seinem russischstämmigen Freund Igor, der selbst seit seinem 18. Lebensjahr in Budapest wohnhaft ist, in einer stilvoll eingerichteten Wohnung nahe des Ferenciek tere.
„Heute ist Budapest offener“
Chris ist kunst- und kulturinteressiert und trifft sich gern mit Freunden zu einem Glas Wein. Über sich selbst sagt er jedoch, dass er nicht mehr oft das Bedürfnis nach Party und durchzechten Nächten habe. „Ich glaube, ich bin aus dem Alter heraus. Aber ich organisiere jeden Freitag ein Expat-Event namens ‚The Friday crowd‘, wo alle möglichen Nationalitäten vertreten sind – von Briten und Norwegern über Afrikaner und Deutsche bis hin zu Ungarn“. Für gewöhnlich findet das Treffen im Caledonia statt, einer schottischen Kneipe, oder im nur wenige Meter von seiner Wohnung entfernt liegenden Jack Doyle’s, einem Irish Pub. Darüber hinaus besucht Chris regelmäßig Internations-Veranstaltungen. „In Budapests Schwulenbars und -clubs verschlägt es uns aber nicht besonders oft. Sie kommen mir etwas segregiert vor, und ich hasse Segregation. In England war es immer ganz schön, dass man nicht extra in Schwulenbars gehen musste, um queere Leute zu treffen, denn die gingen auch in Hetero-Locations. Zumindest seit es auch dort offener zugeht und sich die LGBT-Szene nicht mehr in Schwulenbars ‚verstecken‘ muss. Hier ist das eben anders, wobei die Situation sich bessert. Als ich damals vor zehn Jahren die ersten Male nach Budapest kam, spielte sich die Homoszene im Untergrund ab; die Schwulenbars waren sehr klein und abgeschlossen. Heute empfinde ich Budapest als viel offener.“ Für alle, die doch einmal in die queere nächtliche Szene Budapests eintauchen wollen, empfiehlt Chris die Garçons-Partys, die von Freunden seines Partners organisiert werden.
Politische Statements durch Händchenhalten
Wie das Leben ansonsten für einen offen Homosexuellen in Budapest sei, möchte ich von Chris wissen. Er fühle sich keineswegs bedroht, sondern von größtenteils toleranten Menschen umgeben, antwortet der Engländer. Besonders die jungen, heranwachsenden Generationen würden immer weniger Vorurteile haben. „Natürlich tanze ich nicht auf der Straße zu ABBA (lacht), aber ich bin ziemlich offen, und die Leute wissen bei mir schon, woran sie sind.“ Hand in Hand laufe Chris aber trotzdem nicht mit seinem Freund durch die Stadt. „Ich denke, man würde dadurch Ärger herausfordern und einige Menschen provozieren. Ich habe zwar schon Homosexuelle gesehen, die händehaltend durch Budapest spaziert sind, das waren jedoch meistens Ausländer. Man muss schon vorsichtig sein”, meint Chris.
In England, vor allem in Brighton, sei es kein Problem, offen zu zeigen, dass man in einer homosexuellen Beziehung lebt. In Ungarn machten zwei Hand in Hand gehende Männer aber automatisch ein politisches Statement. „Mal ein Küsschen in der Bar vor den Freunden ist schon ok, aber ich mag es auch nicht so gern, wenn Heteros wild rumknutschen; deshalb ist es mir auch in meiner Beziehung nicht so wichtig, sehr damit an die Öffentlichkeit zu gehen.“ Eingeschränkt fühlt sich Chris als Homosexueller in Ungarn aber nicht. Wer mit den Gegebenheiten hier nicht leben könne, so der Südengländer, der sollte sich nicht hier niederlassen. Außerdem habe sich die Situation hier, gerade in Budapest, bereits merklich verbessert.
Trotzdem fallen Chris, danach gefragt, sofort auch negative Erfahrungen ein, die er in den vergangenen Jahren erleben musste: „Ein Obdachloser hat mich mal als ‚köcsög buzi‘ (in etwa: widerliche Schwuchtel, Anm.) beschimpft, aber das habe ich gar nicht ernst genommen. Solche Betitelungen lasse ich von mir abprallen.“ Heftiger war Chris‘ Erlebnis, von Polizeibeamten beleidigt zu werden. Als er vor einigen Jahren gemeinsam mit hetero- und homosexuellen Freunden vor einem ehemaligen Schwulenclub am Erzsébet tér stand, fuhr ein Polizeiwagen vorbei. Die Beamten lachten Chris und seine Freunde aus und riefen, „Schwule!”. Eine Freundin von Chris fotografierte damals das Nummernschild der Polizisten – zu einer Anzeige kam es jedoch nie. Es hätte ja doch keine Konsequenzen gehabt, so Chris. „Man ist solche Erfahrungen auch einfach irgendwann leid. In England sagen wir, ‚Ignorance is bliss‘ (Unwissenheit ist ein Segen, Anm.). Es ist einfach sehr aufreibend für mich; deshalb bin ich auch nicht – mehr, zumindest – politisch aktiv.“ Auch die Budapest Pride, das heimische Pendant zur internationalen LGBT-Demo, lässt Chris aus: „Ich habe die Pride einmal auf der Andrássy út gesehen und war ehrlich gesagt geschockt. In England ist die Pride kein politisches Event, sondern eher wie eine große Party. In Brighton findet jedes Jahr im August die Brighton Pride statt, zu der um die 200.000 Menschen kommen. Es kommen ganze Familien mit Kindern zur Parade, es geht alles sehr offen zu. Hier in Budapest hat es eine starke politische Nuance. Ich habe von alten Frauen gehört, die Eier auf die Demonstranten schmeißen, oder ich sah Nationalisten, die mit ihren Händen eine Geste machen, als wollten sie die Schwulen lynchen.“ So etwas sei, auch wenn sich die Situation bessere, schlimm, sagt Chris.
Keine Angst vor Veränderung
Ob Chris und sein Partner für immer in Budapest wohnen bleiben, ist ungewiss. Das eigentliche Traumziel der beiden ist Paris. „Wenn sich das ergibt, würden wir schon nach Frankreich ziehen, auch wenn ich Budapest sehr mag.“
Für die Zukunft wünscht sich Chris, dass Menschen mit Vorurteilen gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen weniger Angst haben und vielmehr die Chancen der homosexuellen Gemeinschaft wahrnehmen sollten. „Es gibt viele vornehmlich schwule Industriezweige, zum Beispiel im Mode- und Designbereich“, so Chris. „Die homosexuelle Gemeinschaft hat also einiges zu bieten. Ich habe mal jemanden sagen gehört, dass, sobald Homosexuellen mehr Rechte zugestanden werden, sie diese den Heteros wegnehmen, doch das ist nicht wahr. Keiner sollte Angst vor Veränderung haben und davor, was man nicht kennt.“
Lisa Weil
Chris’ freitägliches Expat-Treffen „The Friday Crowd”:
www.facebook.com/groups/666902710016684/?fref=ts
Caledonia
Scottish Pub & Shop
Budapest V. Mozsár utca 9.
www.facebook.com/caledoniabudapest
Jack Doyle’s
Budapest V. Pilvax köz 1-3.
Expat-Events von Internations via www.internations.org/budapest-expats
Queere Party-Reihe „Garçons”: