Ein radikaler Richtungswandel ist nicht zu erwarten und wäre auch unbegründet. Wenn man die Aussagen von Ministerpräsident Viktor Orbán zu den Grundsätzen seiner Wirtschaftspolitik zusammenträgt, wird er nun an die Feinabstimmung jener Systeme gehen, die im Zuge eines mal mehr, mal weniger tiefgründigen Umbaus im Grunde bereits effizienter funktionieren, als das früher der Fall war. Daneben bleiben dreieinhalb Jahre Zeit, um wirklich schwere Brocken anzugehen, unter denen viele Analysten die Konsolidierung des Gesundheitswesens an erster Stelle erwarten.
Am Arbeitsmarkt setzt Viktor Orbán nunmehr entschieden auf das deutsche Modell der dualen Ausbildung, die flächendeckend an den ungarischen Mittel- und Hochschulen eingeführt wird. Dem Ministerpräsidenten zufolge mag heute noch der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt stehen, doch schon in zwei, drei Jahren werde sich die Frage stellen, wer arbeite und welche Qualität diese Tätigkeit erreicht. Die Erwerbslosenquote ist heute bei 7,6 Prozent angelangt, das Land könne seiner Meinung nach Menschen ohne Abschluss genügend Arbeit bereitstellen. Die Zukunft liege in der fachlichen Ausbildung, von der Berufsschule bis hin zu den Ingenieurhochschulen. Hier gelte es nun dafür zu sorgen, dass möglichst bedarfsgerecht ausgebildet wird.
Der Traum von fünf Millionen Steuerzahlern
Orbán zufolge hätten im Ungarn des Jahres 2010, als der Fidesz zum zweiten Mal nach der Wende die Regierungshoheit übernahm, etwa 3,6 Mio. Menschen gearbeitet, von denen aber nur jeder Zweite Steuern gezahlt hätte. Heute würden hingegen vier Millionen arbeiten, die allesamt zugleich Steuern zahlten. Gewöhnlich wird kritisiert, dass die meisten neuen Arbeitsplätze auf dem Wege öffentlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zustande kommen. Diese Maßnahmen wurden für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger eingerichtet, um möglichst viele von ihnen auf den regulären Arbeitsmarkt zurückzuführen. Unabhängige Beobachter setzen die Erfolgsquote mit weniger als zehn Prozent an, Orbán betonte wiederum unter Berufung auf Roma-Verbände, dass 57.000 Zigeunerfamilien das erste Mal in ihrem Leben Arbeit gefunden hätten. Diese Integrationsbemühungen sind ein wichtiger Baustein in der Strategie, fünf Millionen Menschen in Jobs zu bringen und damit faktisch Vollbeschäftigung zu erreichen. In diesem Sinne könnte sogar die Institution der Sozialhilfe für Inaktive abgeschafft werden.
Der Ministerpräsident behält erwartungsgemäß auch seine familienfreundliche Politik bei. Das Leben lasse sich weder auf Spekulationen, noch auf Beihilfen oder Kredite begründen. Die wichtigste Aufgabe sei es in diesem Zusammenhang, zu verhindern, dass für die Menschen die Frage nach Arbeit oder Familie zum Problem wird. „Wer zu arbeiten anfängt, der erlebt, wie sich sein Leben ändert. Arbeit gibt den Menschen Haltung und Würde, stärkt das Selbstvertrauen und sorgt nicht zuletzt für Geld in der Haushaltskasse“, sagte Viktor Orbán bei seiner ersten Rede im Parlament nach dem neuerlichen Wahlsieg, sein langfristiges Konzept von der auf Arbeit basierenden ungarischen Gesellschaft erläuternd.
„Nun erkennt endlich auch der IWF an, dass Ungarn besser erfüllt. Doch uns interessieren nicht die Statistiken. Denn die Statistik ist eine Wissenschaft, nach der zwei Personen täglich je ein gebratenes Huhn essen, obgleich doch in Wirklichkeit die eine Person ständig zwei ganze Hühner verspeist, während die andere Person hungert. Deshalb dürfen wir nicht auf die Statistiken, sondern müssen auf das wahre Leben der Ungarn achten.““
Viktor Orbán über die günstigeren Statistiken
Anfang 2013 führte die Regierung beispielsweise ein Programm zum Schutz der Arbeitsplätze ein, für das seither gut 200 Mrd. Forint flossen. Damit wurden nahezu 900.000 Arbeitsplätze bei Firmen gestützt, darunter 170.000 Berufsanfänger in den ersten Job vermittelt. Andererseits begünstigt das Programm ältere Arbeitnehmer über 55 Jahre; ihr Anteil macht 40 Prozent aus. Dieses Beschäftigungsprogramm wird von mehr und mehr Arbeitgebern in Anspruch genommen. Diese können bei Vorliegen bestimmter Bedingungen Steuervergünstigungen wahrnehmen.
Viel Geld wird gebraucht
Gemessen am Volumen eines einzigen, wenngleich zentralen Arbeitsmarktprogramms steckte die Orbán-Regierung in den vergangenen vier Jahren nach eigener Darstellung 250-300 Mrd. Forint in den Umbau des Bildungswesens und 450 Mrd. Forint in das Gesundheitswesen. Letzteres ist dennoch vollkommen marode, weshalb hier ein Vielfaches des Finanzbedarfs und erheblich effizientere Strukturen vonnöten sind. Angedeutet wurden in dieser Hinsicht bislang Pläne einer umfassenden Schuldenkonsolidierung der Krankenhäuser und einer Stärkung des Systems der Hausärzte.
Schwere Milliardenbeträge werden auch weiterhin in die Verkehrsinfrastruktur fließen, denn bis 2018 sollen zum Beispiel sämtliche Komitatshauptstädte im Lande über vierspurige Schnellstraßen erreichbar sein. Egal welche Reformen die Regierung auch angeht, viel Geld wird sie dazu benötigen. Von Seiten der EU werden bis 2020 jährlich bis zu 4 Mrd. Euro fließen, die mehrheitlich direkt zur Wirtschaftsentwicklung eingesetzt werden sollen. Zusätzliche Ressourcen lassen sich durch einen sparsameren Staat, Stichwort: Abbau der Bürokratie, und über Wirtschaftswachstum freisetzen. Unsere Tabelle zeigt, dass die ungarische Wirtschaft in letzterer Hinsicht Anzeichen der Gesundung vermittelt, wobei zu hoffen bleibt, dass die Eintrübung der Konjunktur auf Ungarns wichtigstem Exportmarkt Deutschland keine Schatten nach Ungarn wirft.
Aktuelle Indikatoren der ungarischen Volkswirtschaft
(Angaben für das I. Halbjahr 2014, im Vergleich zum Vorjahr)
Bruttoinlandsprodukt +3,8%
Inlandsverbrauch +3,9%
Privatverbrauch +1,5%
Investitionen +22%
Investitionsquote 16,8%
Handelssaldo +1.200 Mrd. Forint (Exporte +8,2%, Importe +8,5%)
BEITRAG ZUR WERTSCHÖPFUNG:
Industrie +6,8%
Baugewerbe +21,0%
Landwirtschaft +4,2%
Dienstleistungssektor +1,8%
Nettolöhne* +3,0%
Einzelhandel* +2,5%
Erwerbsquote** 62,4%
Erwerbslose** 7,6%
Geburten* +2,9%
Todesfälle* 3,3%
Eheschließungen* +4,7%
Anmerkungen:
* Angaben für den Zeitraum Januar-Juli
** Angaben für den Zeitraum Juni-August
Quelle: KSH