Am 23. Oktober 1956 brach in Ungarn der Volksaufstand aus, der nicht zuletzt ein Aufbegehren gegen den Stalinismus ungarischer Prägung und die Gängelung durch die Sowjetunion war. Politisch versuchen heute die meisten Parteien, sich ein Stück vom Revolutionskuchen abzuschneiden. Im BZ-Interview erklärt Historiker Krisztián Ungváry, wie sich dieser Tag in der Wahrnehmung der Ungarn veränderte.
Was genau geschah am 23. Oktober 1956?
An diesem Tag brach die Revolution in Ungarn aus. Ursprünglich wollten Universitätsstudenten eine Solidaritätskundgebung für Polen veranstalten. Diese wurde erst verboten und dann zugelassen. Aus der Haltung wurde klar, dass die Machthaber verunsichert waren. Am Nachmittag des 23. Oktober begann die Kundgebung. Die Demonstranten verlangten am Abend vor dem Parlament, dass Imre Nagy zu ihnen sprechen soll. Sie wurden mit den Worten „Werte Genossen“ angesprochen und erwiderten „Wir sind keine Genossen“. Mit dieser Aussage war klar, dass mit der Revolution etwas Neues anfängt. Am Abend gab es erste Kampfhandlungen, und das Stalin-Denkmal in Budapest wurde gestürzt.
Die Revolution wurde blutig niedergeschlagen. Wie ging das Regime von János Kádár mit diesem Tag nach der Konsolidierung des Systems um?
1956 war ein absolutes Tabuthema. Man durfte nur Negatives darüber sagen. Generell wurde es totgeschwiegen, und man hat es vermieden, überhaupt darüber zu sprechen. In den 1980er Jahren sprach man von bedauerlichen Vorfällen im Jahr 1956. Dies drückte die Distanzhaltung aus. In der DDR wurde die Mauer von den Machthabern nicht tabuisiert, sondern propagandistisch ausgeschlachtet, um damit die Stärke der Diktatur zu demonstrieren. Das hätte man in Ungarn mit den Ereignissen von 1956 auch machen können. Aber János Kádár wollte die Gesellschaft nicht provozieren, und so wurde das Thema vernachlässigt.
War der 23. Oktober trotzdem im Bewusstsein der Ungarn verankert?
Die meisten Menschen denken nicht in historischen Kategorien und beschäftigen sich nicht mit der Geschichte. Nur eine kleine Minderheit pflegte das Gedenken an diesen Tag aktiv.
Welche Rolle spielten die Proteste von 1956 bei der Ausrufung der Republik am 23. Oktober 1989 und dem damit einhergehenden Ende der Volksrepublik Ungarn?
Der Tag wurde bewusst gewählt. Aber es stellte sich vielmehr die Frage, was eine demokratisch gewählte ungarische Regierung als Richtschnur betrachtet. Sollte man sich an 1956 orientieren oder an etwas anderes anlehnen? Eine Anlehnung an 1956 war schwierig, weil die Inhalte der Revolution nicht eindeutig waren. Die damaligen Parteien konnten sich nicht entfalten. Auf dem heutigen ungarischen Staatswappen ist eine Krone zu sehen. Es gab zwischen 1989 und 1991 heftige Diskussionen darüber, ob sie darauf sein soll oder nicht. Mit der Krone auf dem Staatswappen ist es eher eine Anlehnung an 1945 als 1956.
1990 fanden die ersten Parlamentswahlen in Ungarn statt. Wie veränderte sich die Wahrnehmung von 1956?
Die Wahrnehmung veränderte sich nicht durch die freien Wahlen, sondern weil sich die Menschen frei artikulieren konnten. Der Übergang ist also nicht schwarz-weiß zu sehen. Der Volksaufstand 1956 war natürlich auch nach 1989 ein Politikum. Die einstigen Träger der Erinnerung waren Intellektuelle mit einer linken Vergangenheit, die sich während der Revolution auf die Seite der Aufständischen schlugen. 1989/1990 wurden sie in den Hintergrund verdrängt. Menschen aus dem einfachen Volk, die keine Rolle in der Erinnerungskultur spielten, wurden immer dominanter. Sie waren politisch eher Vertreter des rechten und konservativen Lagers. Dies ist auch der Haltung der Opferverbände zu entnehmen.
Am 23. Oktober finden zahlreiche politische Veranstaltungen statt. Wird das Gedenken an den Tag für politische Zwecke missbraucht?
Ja natürlich. Die Politik bedient sich immer solcher Ereignisse, aus denen sie politisch Kapital schlagen kann. Das war schon immer so und wird immer so sein. Alle Parteien wollen sich als Erben der Proteste von 1956 darstellen. Das gelingt ihnen unterschiedlich gut.