
Mitgefühl statt Mitleid: Regisseur Men Lareida gelingt es mit seinem Film, eine neue Sicht auf das Problem der Prostitution zu eröffnen.
Es ist ein Phänomen, von dem viele wissen, an dem aber kaum jemand Anteil nimmt: Auf der Suche nach schnellem Geld und einem Ausweg aus der Chancenlosigkeit, die sie in ihrem eigenen Heimatland erwartet, kommen meist Roma-stämmige Ungarinnen in die Schweiz, um als Prostituierte zu arbeiten. Gemeinsam mit seiner ungarischen Frau Anna Maros hat der Schweizer Regisseur Men Lareida dieses Phänomen in einem berührenden Film verarbeitet. Dabei setzt er nicht auf Mitleid, sondern auf Mitgefühl mit der Hauptakteurin. Der Budapester Zeitung erklärte Men Lareida, was er damit meint.
Einfühlend subjektiv, aber doch nüchtern und realitätsnah erzählt der Film „Viktoriá – A Tale of Grace and Greed“ die Geschichte des jungen ungarischen Roma-Mädchens Viktória, die in der Hoffnung, möglichst bald viel Geld zu verdienen, ihre Heimatstadt Budapest verlässt, um in Zürich als Prostituierte zu arbeiten. Hier steht sie Nacht für Nacht auf dem Straßenstrich unter fahlem Laternenschein und wartet auf den nächsten Freier, den sie dann in seinem Auto auf irgendeinem dunklen Parkplatz befriedigt. Was Viktória am Leben erhält, sind die Gedanken an zu Hause und die Möglichkeiten, die das viele Geld ihr bringen wird. So findet sie inmitten der Welt des schnellen Sex, geprägt von Gewalt, Ekel und Demütigung auch Liebe und Freundschaft – und sich selbst.
Unterwegs im Wiener Walzer
Ganze fünf Jahre haben Men Lareida (45) und Anna Maros (42) an der Recherche und Vorbereitungen für dieses Filmdrama gearbeitet. Eine besondere Rolle spielte für sie der Wiener Walzer. Hier ist kein Standardtanz gemeint, sondern ein Nachtzug zwischen den Städten Budapest und Zürich. Dort sind sie den beiden Kulturschaffenden, die regelmäßig zwischen der Schweiz und Ungarn pendeln, das erste Mal aufgefallen: die Damen, deren Profession unausgesprochen in der stickigen Luft der Zugabteile schwebt. „Früher saßen in dem Zug nur Studenten und ältere Leute. Doch seit die Schweiz das Schengener Abkommen umsetzt, nehmen viele Frauen auf dem Weg in die Prostitution diesen Zug“, erzählt Men Lareida. Der Regisseur und seine Frau kamen mit den Frauen ins Gespräch, die alle aus den unterschiedlichsten Gründen diesen Weg wählten und mussten lernen: „Es gibt nicht die eine Geschichte. Man kann diese Frauen nicht generalisieren.“ Manche werden von ihren Familien gezwungen, andere zwingt die Not, und wieder andere gehen des Geldes wegen, erzählt Men Lareida und fügt hinzu: „Einige Geschichten enden glücklich, andere nicht.“ In die Schweiz würde es die jungen Ungarinnen ziehen, weil im dortigen Sexgewerbe mehr verdient werden könne als in anderen Teilen Europas und auch die rechtlichen Bestimmungen und Behörden viel lascher seien.

Regisseur Men Lareida mit Hauptdarstellerin Farkas: „Es gibt nicht die eine Geschichte. Man kann diese Frauen nicht generalisieren.“
„Die Frauen wollen nicht bedauert werden“
Seine erste Reaktion auf die Schicksale, die er zu hören bekam, sei Mitleid gewesen, doch das, so Lareida, wollen die Frauen gar nicht. „Ich hab sie im Zug auf der Rückfahrt nach Budapest beobachtet. Sie holen ihr Geld raus und zeigen dir ‚Ich bin keine arme Frau‘“. Dieser ungebrochene Stolz inspirierte ihn und seine Frau dazu, all diese Erfahrungen in der exemplarischen Geschichte der Prostituierten Viktória filmisch zu verarbeiten. Auch sie hat ihren Stolz. Als Viktória, gespielt von Franciska Farkas, ihren ersten Verdienst nach Hause schickt, passiert auf der Leinwand das Unglaubliche: Ihre Augen fangen an zu leuchten. Trotz all der Demütigung, die sie hinnehmen musste, erfreut sie sich an dem, was sie erreicht hat.
Doch auch die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Frauen zeigt der Film. Viele arbeiten bis zur Erschöpfung, werden von Behörden, ihren Zuhältern und Freiern drangsaliert und gedemütigt. Auch von dem Geld, um dessen Willen viele gekommen sind, bleibt am Ende nicht viel übrig, denn „50 für Blasen, 80 für Ficken, 100 komplett“, wie es im Film heißt, sei einfach keine ausreichende Bezahlung für eine solche Arbeit, so Lareida.
Ohne erhobenen Zeigefinger
Eigentlich wolle Lareida aber gar nicht anklagen. „Viktória – A tale of Grace and Greed“ solle die Zuschauer nicht ermahnen oder eine lehrreiche Parabel auf die Gefahren des Sexgewerbes sein, sondern die Dinge zeigen, wie sie sind. Der Regisseur sei keineswegs dafür, das Sexgewerbe zu kriminalisieren, denn: „Man muss zumindest in Betracht ziehen, dass Prostitution eine Möglichkeit für diese Frauen ist.“ Allerdings fordert er, die Sicherheit für die Sexarbeiterinnen zu erhöhen und Perspektiven zu schaffen, die für die Frauen Alternativen zur Prostitution darstellen, auch in den Herkunftsländern.

Regisseur Lareida: „Man muss zumindest in Betracht ziehen, dass Prostitution eine Möglichkeit für Frauen sein kann.“
Zwar scheint die Aufmerksamkeit für die Problematik der Prostituierten aus Ungarn geschärft – zahlreiche Fernseh- und Zeitungsartikel haben sich schon damit beschäftigt und sogar HR-Minister Zoltán Balog äußerte sich in der Neuen Zürcher Zeitung bereits zum Thema – allerdings dominieren Vorurteile gegenüber den Roma meist die Diskussion. Denn, wie Lareida sagt, werden die Frauen trotz ihrer Staatsangehörigkeit nicht als Ungarinnen, sondern primär als Angehörige der Roma wahrgenommen. Mit ihren stolzen Hauptakteurinnen und der sensibel und differenziert nachgezeichneten Welt des Rotlichtmilieus fügt „Viktória – A Tale of Grace and Greed“ dieser bisher eher einseitig geführten Diskussion neue Facetten hinzu.
In Ungarn wird der Film von Mozinet vertrieben und ist seit dem 2. Oktober „Viktória – A Tale of Grace and Greed“ bereits in den ungarischen Kinos zu sehen. In Deutschland und Österreich verhandele man laut Lareida noch mit verschiedenen Filmvertrieben.