In der Stadt Miskolc, im Nordosten Ungarns, leben etwa 25.000 Roma. Ihre größte geschlossene Siedlung sind die sogenannten „nummerierten Straßen“. In den 60er Jahren als Arbeitersiedlung angelegt leben hier etwa 1.000 Menschen. Doch ihre Zukunft ist ungewiss.
Die Stadt Miskolc hat angekündigt, aus Gründen der Stadtentwicklung die Armutssiedlungen auflösen zu wollen. Gleichzeitig wird das angrenzende DKTV-Stadion auf die Kapazität von 15.000 Zuschauern vergrößert – der dafür neu angelegte Parkplatz soll auf dem Gebiet der nummerierten Straßen gebaut werden.
Der Bürgermeister von Miskolc, Ákos Kriza, sieht die Pläne als entscheidend für die Stadtentwicklung an: „Sowohl aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als auch der Gesundheit kann ein weiteres Bestehen der Armutssiedlungen nicht gerechtfertigt werden“, erklärte er gegenüber dem Online-Magazin index.hu. Die Bevölkerung sieht er hinter sich – zusammen mit dem Fidesz hat er 35.000 Unterschriften für die Auflösung der Armutssiedlungen gesammelt.
Die nummerierten Straßen stellten wegen der Stadionserneuerung einen Sonderfall dar, erklärte er gegenüber Hír tv: „Wir können nicht erwarten, dass mehr als 10.000 Fußballfans eine Armutssiedlung durchqueren müssen, um ins Stadion zu gelangen. Die rechtmäßigen Anwohner bringen wir natürlich woanders unter. Wir arbeiten mit Bedacht auf die soziale Gerechtigkeit und entscheiden einzeln über jede Familie.“ Es gäbe aber auch viele Menschen dort, die seit Jahren unrechtmäßig in den Kommunalwohnungen leben: „Verantwortliches Wirtschaften erlaubt es nicht, dass Personen, die jahrelang keine Miete zahlen, dort wohnen und die Immobilien verwüsten, sodass Kinder zwischen Ratten und Kakerlaken aufwachsen.“ Auf Nachfrage der Budapester Zeitung reagierten weder Bürgermeister Kriza noch sein Büro.
Aber um wen geht es konkret? Die ungarischen Soziologen Gábor Havas und Gabriella Lengyel haben die Einwohner von 112 Wohneinheiten in den nummerierten Straßen befragt. Das Ergebnis: Ungefähr 90% der Anwohner sind Roma, 85% von ihnen wurden in Miskolc geboren. In 58 Wohnungen gelten unbefristete Verträge, in 38 dagegen befristete. Das ist nicht unerheblich: Während laut den Anwohnern Verträge bei Ablauf bisher automatisch verlängert wurden, weigert sich die Stadt nun, diese Praxis fortzusetzen. Und eine Entschädigung bekommen nur Mieter mit laufenden Verträgen. Somit besteht für einen Großteil der Anwohner die Gefahr, ohne Entschädigung auf der Straße zu stehen.
Export sozialer Probleme
Attila Tamás, ein unabhängiger Roma-Aktivist kommt daher zu einem klaren Schluss. „Miskolc versucht, die Zigeuner auszusiedeln. Ich wäre erfreut über ein Ende der Segregation. Aber die Miskolcer Politik läuft darauf hinaus, die Armen wegzuschicken, anstatt nach einer Lösung zu suchen.“
Tatsächlich kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren: Bereits am 8. Mai stimmte die Fidesz-Mehrheit im Stadtrat dafür, die Entschädigungen für die Mieter von kommunalen Wohnungen bei einer Auflösung des Mietverhältnisses deutlich einzuschränken: Nur Mieter, die Wohneigentum außerhalb von Miskolc erwerben und sich verpflichten, es fünf Jahre lang nicht zu verkaufen, werden mit bis zu zwei Millionen Forint entschädigt. Für die Anwohner stellt sich daher die Frage: Wohin nun? Viele Familien wohnen seit vielen Generationen in Miskolc und möchten die Stadt nicht verlassen. Dazu kommen Existenzsorgen. Hier haben die meisten Arbeit, etwa in den nahe gelegenen Fabriken – aber wovon sollen sie in den ländlichen Kommunen leben?
Die Bewohner wollen eine Umsiedlung daher nicht hinnehmen. Sie verlangen Gerechtigkeit, dafür haben sie auch schon demonstriert. Einige Aktivisten zelteten im Sommer wochenlang vor dem Rathaus, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. „Wir bleiben in Miskolc“, lautet der Slogan der „Magyar Cigány Párt“ („Ungarische Zigeunerpartei“, MCP). Für die Bürgermeisterwahlen am 12. Oktober hat sie einen eigenen Kandidaten aufgestellt – von den großen Parteien fühlen sich viele Roma nicht vertreten. Der Fidesz versuche der rechtsextremen Jobbik durch Antiziganismus Stimmen abzugewinnen; Albert Pásztor, dem gemeinsamen Kandidaten der linksliberalen Parteien, stehen sie aufgrund seiner Rolle als ehemaliger Polizeipräsident misstrauisch gegenüber. „Er ist dafür bekannt, seit Jahren antiziganistisch aufzutreten“, so Roma-Aktivist Tamás.
Für die MCP geht es vor allem darum, Aufmerksamkeit für die Situation der Miskolcer Roma zu gewinnen, aber das gestaltet sich als schwierig. „Unsere finanziellen Mittel reichen gerade einmal dafür aus, Plakate aufzuhängen. Ansonsten liegt unsere einzige Möglichkeit darin, quasi mit dem Hut herumzugehen und mit den Menschen zu sprechen“, sagt Gábor Váradi, der Bürgermeisterkandidat der MCP. In der Politik möchte er sich für eine stärkere Werteorientierung aussprechen und betont: „Miskolc ist meine Heimat.“ Einzige Chance sei es, Einigkeit zu demonstrieren. Bisher habe daher niemand eine Entschädigung angenommen.
Aber auch die umliegenden Kommunen heißen die Roma nicht willkommen – sie fürchten, dass Miskolc seine Armutsprobleme auf sie abschiebt. Die Gemeinde Felsőzsolca und fünf andere Kommunen kündigten in einer Erklärung an: „Wir unterstützen den Export sozialer Probleme nicht und werden ihn mit allen gesetzlichen Mitteln zu verhindern suchen“.
Nirgendwo willkommen
Was hier nur angekündigt wird, ist in Sátoraljaújhely an der Grenze zur Slowakei bereits Realität – obwohl die Stadt 86 Kilometer von Miskolc entfernt liegt und ein Umzug vieler Roma dorthin unwahrscheinlich erscheint. Diejenigen, die „mit einer von anderen Kommunen erhaltenen finanziellen Vergütung auf dem Gebiet von Sátoraljaújhely Wohneigentum erwerben“, sollen laut der neuen Regelung in den ersten fünf Jahren keine Sozialleistungen erhalten, keine Wohnungen im kommunalen Besitz mieten oder erwerben dürfen und sind für drei Jahre von kommunalen Arbeitsprogrammen ausgeschlossen. Eine örtliche Notarin zweifelt die Rechtmäßigkeit dieser Regelungen an – gesetzlich sind Kommunen in Ungarn zur Zahlung von Sozialleistungen verpflichtet – die Stadt verabschiedete die Regelung trotzdem und will es auf einen Rechtsstreit ankommen lassen.
So sind die Roma der nummerierten Straßen weder in Miskolc noch in der Umgebung der Stadt willkommen – als beinahe zwingende Folge erscheint da, dass sie nach Budapest ziehen und sich das Armutsproblem von Miskolc in die Hauptstadt verlagert. Attila Tamás sieht, ehe es dazu kommt, die Stadt in der Pflicht, eine sozialverträgliche Lösung zu finden: „Wenn Miskolc Armutssiedlungen auflösen will, dann soll die Stadt den Menschen über die Stadt verteilt neue, gleichwertige Wohnungen anbieten – so könnte man auch die Segregation beenden.“