Als Samantha Downton vor einigen Wochen einen Brief vom Nationalen Wahlbüro erhielt, musste sie zunächst ihren ungarischen Freund um Hilfe bitten. Das einzige Wort im Schreiben, das sie verstand, war lakcímkártya – die ungarische Wohnkarte, die neben einem Personalausweis oder Reisepass zur Kommunalwahl am kommenden Sonntag, 12. Oktober, mitgebracht werden muss. Wie der 26-jährigen Engländerin geht es vielen Expats in Ungarn.
Die Sprachbarriere und fehlende englischsprachige Informationen von Seiten der Politik erschweren den Durchblick in Bezug auf die zur Wahl stehenden Kandidaten für viele Nicht-Ungarn. Dabei dürfen nach der gültigen gesetzlichen Regelung alle ausländischen EU-Bürger, die über eine ungarische Adresse verfügen, ihre Stimmen bei den ungarischen Kommunalwahlen abgeben, ohne sich dafür vorab registrieren zu müssen. Und allgemein – EU-Beitritt sei Dank – dürfen alle EU-Bürger in der Europäischen Union an Kommunalwahlen an ihrem Hauptwohnsitz teilnehmen, unabhängig davon, in welchem Mitgliedsstaat sich dieser befindet.
In Ungarn sind es immerhin 107.000 ausländische Wähler, die die Regelung betrifft. Wer die deutsche Sprache beherrscht, kann sich mithilfe von Vokskabin, eines an der Andrássy Universität entwickelten Wahl-o-maten (die Budapester Zeitung berichtete zur Parlamentswahl), über seine Wahlmöglichkeiten informieren. Die offizielle Webseite des Wahlbüros, www.valasztas.hu, wartet darüber hinaus sogar viersprachig auf: Neben Ungarisch ist die Seite – wenn auch nicht vollständig übersetzt – auch auf Deutsch, Englisch und Französisch zu erreichen. Über die Interessen und Pläne der einzelnen Parteien und Kandidaten kann Samantha ohne Hilfe eines Ungarn dennoch wenig erfahren: „Die einzige Partei, die überhaupt englischsprachige Informationen auf ihrer Webseite hat, ist die LMP (ungarische Ökopartei, Anm.). Diese beziehen sich allerdings nur auf die Vorstellungen der Partei und ihrer politischen Inhalte ganz allgemein, nicht auf das Programm bei den aktuellen Wahlen“, bedauert Samantha.
Interesse – aber keine Ahnung
Und auch im persönlichen Gespräch erhielt die Kundenberaterin nicht die Chance, mehr zu erfahren: „Einmal klopfte es bei mir zu Hause an der Tür, und zunächst dachte ich, sie wollen nur Flyer und Infomaterial verteilen. Als ich aufmachte, begannen die Vertreter der LMP auf Ungarisch mit mir zu sprechen. Ich sagte ihnen dann, dass ich sie leider nicht verstehe, woraufhin ich in englischer Sprache die Antwort erhielt: Ach kein Problem, war nicht wichtig, es ging eh nur um ungarische Politik. Als ob mich das Thema also gar nicht interessieren müsste. Ich war etwas verdutzt und reagierte nicht sofort – und dann waren die beiden auch schon fort.“
Auch wenn Expats nur einen geringen Teil der Wählerschaft ausmachen, könnten sie nach Samanthas Meinung fürwahr einen Unterschied ausmachen und sollten allein deshalb stärker im Fokus der Parteien stehen. „Es sollte zumindest etwas mehr englischsprachiges Informationsmaterial zur Verfügung gestellt werden, in dem sich die kandidierenden Parteien oder Personen kurz vorstellen, das wäre sehr hilfreich“, wünscht sich die seit über einem Jahr in Budapest lebende junge Frau. „Ich möchte gerne wählen gehen, aber momentan habe ich einfach keine Ahnung, wem ich mein Kreuz geben soll, da ich mich zu wenig informieren konnte.” Samantha hält auch andere Expats für grundsätzlich politisch interessiert, „sie wissen aber vielleicht nicht einmal, dass sie wählen gehen können – geschweige denn wen.“
„Wir erbitten die Hilfe der Nicht-Ungarn“
Der 28-jährige Tamás Soproni kandidiert als Abgeordneter der Bezirksversammlung im innerstädtischen Terézváros für das Linksbündnis aus MSZP (Sozialisten), Demokratischer Koalition. (DK) und “Gemeinsam-Dialog für Ungarn”. Er war mehrere Jahre lang Präsident beim Erasmus Students Network (ESN) an der Eötvös Loránd Universität und Vizepräsident für Auswärtige Angelegenheiten des Studierendenausschusses und lebte selbst bereits in England und Italien. Neben der Politik ist er als selbstständiger Englisch-Übersetzer tätig. In seiner Funktion als Wahlkampf-Leiter war es ihm wichtig, auch gezielt die potenziellen nicht-ungarischen Wähler anzusprechen – eine Ausnahme in der Politlandschaft. „Etwas, worauf ich besonders stolz bin, sind unsere englischsprachigen Direktmarketing-Briefe, die wir an alle nicht-ungarischen Wahlbürger verschicken, die in Terézváros wohnhaft sind.“
Im Brief stellt sich Tamás als Kandidat und Mensch vor und spricht die Themen der vereinten Linken an, die wiederum für Nicht-Ungarn interessant sein könnten: „Man muss zum Beispiel verstehen, dass ein Ausländer wahrscheinlich kein Bezirks-Lokalpatriot ist. Budapest dagegen kann ein Thema sein, dass den Expats schon näher ist, denn sie mögen die Ruinenkneipen, die Architektur et cetera. Ein weiteres interessantes Thema für Ausländer ist das Land. Viele von ihnen, das weiß ich von meinen eigenen nicht-ungarischen Freunden, lesen Medien in englischer oder ihrer Muttersprache und wissen im Großen und Ganzen, was in Ungarn passiert – so natürlich auch die vielen negativen und leider wahren Ereignisse der Tagespolitik. Im Brief möchten wir, so komisch es auch klingen mag, die Hilfe der Adressierten erbitten. Wir rufen sie dazu auf, mit uns gemeinsam zu verhindern, dass dieses Land am Rande der EU zu einem autokratischen System verkommt. Ein Schlüssel dazu können die Kommunalverwaltungen sein, denn ich glaube daran, dass man auch auf regionaler Ebene der Regierung nicht nur einen Nasenstüber geben, sondern aktiv Widerstand leisten kann.“ Zwar ist sich Tamás bewusst, dass es nicht jeden Expat interessiert, was in seiner zumeist temporären Heimat politisch passiert, „aber wenn ich wenigstens ein paar Hundert von den rund 1.600 in Terézváros lebenden Ausländern mobilisieren und ansprechen könnte, würde ich das schon als großen Erfolg verbuchen.“
Am Ende des Direktmarketing-Briefes stehen Tamás‘ Email-Adresse und Telefonnummer und zuletzt, wann, wohin und mithilfe welcher Dokumente der ausländische Wähler sich zur Urne aufmachen kann. „Ich glaube fest daran, dass es Menschen gibt“, so Tamás, „die den Brief lesen und sich sagen, na gut, dann gebe ich mir einen Ruck und gehe wählen. Schließlich ist es ihr gutes Recht.“