Tibor Navracsics hatte am Mittwoch vergangener Woche fürwahr keine leichte Aufgabe zu bewältigen. Der designierte ungarische EU-Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Bürgergesellschaft musste sich in Brüssel drei Stunden lang den Fragen der Bildungs-und Kulturkommission des Europäischen Parlaments unter der Leitung der italienischen Vorsitzenden Silvia Costa stellen.
Insgesamt durften 45 EU-Abgeordnete Fragen stellen, auf die Navracsics, der zuletzt Minister für Außenpolitik und Außenhandel (Nachfolger: Péter Szijjártó), in der Legislaturperiode 2010-2014 Minister für Öffentliche Verwaltung und Justiz und zuvor jahrelang Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei Fidesz gewesen war (2006-2010), laut ungarischen Medienberichten über weite Strecken selbstbewusst und gelassen antwortete.
Navracsics stellte sich als überzeugten Europäer dar und versicherte, dass er den europäischen Werten verpflichtet sei. Bei der Frage eines EU-Abgeordneten hinsichtlich des umstrittenen ungarischen Mediengesetzes, betonte Navracsics, dass er ein Verfechter der Presse- und Meinungsfreiheit sei. Wie er sagte, sind die Freiheit und Vielfalt der Medien eine Grundlage demokratischer Gesellschaften. Navracsics bedauerte, dass die ungarische Regierung, deren Mitglied er gewesen sei, diesem bedeutenden Aspekt „nicht immer“ das gebührende Gewicht beigemessen habe.
Er erinnerte ferner daran, dass das umstrittene Mediengesetz seinerzeit modifiziert worden sei, nachdem die zweite Regierung von Viktor Orbán (2010-2014) aus ganz Europa, zumal aus Brüssel, scharfe Kritik geerntet hatte. Er selbst sei es gewesen, so Navracsics, der bei den einschlägigen Verhandlungen zwischen der Regierung Orbán und den europäischen Institutionen, darunter dem Europarat, vermittelt habe. Dabei habe er gelernt, wie die nationalen Interessen eines Landes mit den gesamteuropäischen Interessen unter einen Hut zu bringen sind.

Als EU-Kommissar wurde Navracsics bestätigt, nicht jedoch im geplanten Fachbereich Bildung, Kultur und Jugend. (Foto: MTI)
Deutscher Spaßpolitiker Sonneborn provoziert mit „Mein Kampf“-Frage
Die vielleicht provokanteste Frage an Navracsics kam vom unabhängigen deutschen EU-Parlamentarier Martin Sonneborn. Der ehemalige TV-Komiker und heutige Spaßpolitiker, der über die Witzpartei „Die Partei“ ins EU-Parlament eingezogen war, wies darauf hin, dass in den ungarischen Schulen „antisemitische Autoren“ wie Albert Wass, József Nyírő und Cécile Tormay unterrichtet würden, worauf er sich bei Navracsics erkundigte, ob im Fall seiner Wahl zum EU-Kommissar für Bildung und Kultur Hitlers „Mein Kampf” in Europa Pflichtlektüre werden würde.
Navracsics nahm die Frage Sonneborns offenbar ernst, bekräftigte er doch, dass er gegenüber dem Antisemitismus persönlich eine Null-Toleranz-Linie verfolge. Er verwies überdies darauf, dass er hervorragende Beziehungen zu der jüdischen Gemeinschaft in Ungarn pflege. Auch sei er es gewesen, der von offizieller ungarischer Seite zum ersten Mal eingestanden habe, dass die ungarischen Behörden tatkräftig an der Deportation der eigenen Bürger, sprich der Juden, beteiligt gewesen seien.
Navracsics sagte am Ende seiner dreistündigen Anhörung, dass es ein „ehrlicher, offener und demokratischer Dialog“ gewesen sei. Im Rahmen einer kurzen Pressekonferenz im Anschluss an die Anhörung antwortete er auch noch auf zwei Fragen von Journalisten. Die erste Frage: Was er über die Aussage von Viktor Orbán denke, wonach die liberale Demokratie kein gutes Modell sei. Seine Antwort: „Dass ich ein guter und loyaler EU-Kommissar werden möchte.“ Die zweite Frage: Welche Erfahrungen er sich aus seiner Arbeit als Minister als EU-Kommissar zunutze machen wolle. Antwort: „die hervorragende Zusammenarbeit mit Zivilorganisationen“.
EP-Fachkommission lehnt Navracsics als EU-Kommissar für Bildung ab
Trotz der positiven Worte von Navracsics nach der Anhörung gab es am Montag dieser Woche einen Knalleffekt. Die Kommission für Bildung und Kultur des Europäischen Parlaments (EP) lehnte nach einer Abstimmung Navracsics als EU-Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Bürgergesellschaft ab. Die EP-Kommission ist zwar der Meinung, dass Tibor Navracsics für den Posten eines EU-Kommissars geeignet ist, nicht aber für das Amt des EU-Kommissars für Bildung, Kultur, Jugend und Bürgergesellschaft, das ihm der künftige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zugetragen hat. Der an der Sitzung der EP-Kommission teilnehmende Europaabgeordnete der von Ex-Premier Ferenc Gyurcsány (2004-2009) geführten Demokratischen Koalition (DK), Csaba Molnár, erklärte gegenüber Journalisten, dass die EP-Kommission zwei Mal abgestimmt habe.
Bei der ersten Abstimmung, bei der es darum ging, ob Navracsics als EU-Kommissar geeignet sei, habe es 15 „Ja“- und zehn „Nein“-Stimmen neben zwei Enthaltungen gegeben. Im Rahmen des zweiten Votums, bei dem darüber abgestimmt wurde, ob Navracsics das Amt des EU-Kommissars für Bildung, Kultur, Jugend und Bürgergesellschaft bekommen soll, wie Jean-Claude Juncker es für ihn vorgesehen hatte, habe es 14 „Nein“- und 12 „Ja“-Stimmen neben einer Enthaltung gegeben.
Fidesz: Navracsics war einer der besten EU-Kommissar-Kandidaten überhaupt
Für die EU-Abgeordneten der linksliberalen Oppositionsparteien in Ungarn (MSZP, Demokratische Koalition, „Gemeinsam-Dialog für Ungarn“) war die negative Entscheidung der EP-Fachkommission eine Bestätigung ihres Standpunktes, wonach Navracsics für den Posten eines EU-Kommissars untauglich sei. Demgegenüber ließ die Abgeordnetengruppe der ungarischen Regierungspartei Fidesz im Europäischen Parlament in einer Presseerklärung wissen, dass sie die Anhörung von Tibor Navracsics vor der EP-Kommission als „eindeutigen Erfolg“ betrachte. Laut Fidesz war Navracsics „einer der besten EU-Kommissar-Kandidaten“ überhaupt, seine Eignung steht mithin „nicht zur Frage“.
Der Fidesz-Mitbegründer und ehemalige EU-Abgeordnete, Tamás Deutsch, verwies darauf, dass die Ernennung von Navracsics zum EU-Kommissar für Bildung und Kultur nicht zur Disposition stehe, liege die Entscheidung doch „allein bei Jean-Claude Juncker“. Die Fachkommission des Europäischen Parlaments hat lediglich einen Vorschlag hinsichtlich der Person von Navracsics artikuliert, so Deutsch. Weder eine Fachkommission des Europäischen Parlaments noch das Europaparlament selbst haben die Möglichkeit, die Ernennung eines EU-Kommissars mit einem Veto zu vereiteln.