Ein Paradoxon der ungarischen Gegenwartspolitik ist gewiss die Tatsache, dass Ungarns Linke zwar bei jeder Gelegenheit Gift und Galle über die Regierung Orbán spuckt, sich in dem Moment aber, in dem es darauf ankommt sie abzuwählen, so ungeschickt und halbherzig anstellt, als wäre es aus ihrer Sicht eigentlich doch ganz akzeptabel, die Regierungsgeschäfte weiterhin in den Händen Orbáns zu belassen. Das war bei den Parlamentswahlen und den Europawahlen der Fall, und das war auch jetzt vor den Kommunalwahlen am Sonntag wieder so.
Eine durchaus plausible Erklärung dieses Phänomens bietet der ehemalige sozialistische Finanzminister und heutige bekennende Konservative, Lajos Bokros. In unserem BZ-Interview vertritt der frischgebackene OB-Spitzenkandidat der linken Parteien unter anderem die Ansicht, dass sich diese deshalb so schwer tun würden, dem Fidesz massenwirksam Paroli zu bieten, weil die im Ausland bevorzugt als „rechtskonservativ“ bezeichnete Partei im Grunde genommen wie eine echte Linkspartei handelt. Statt wie etwa die SPD unter Schröder den Banken zu Diensten zu sein, legt sich Orbán mächtig mit ihnen an, ebenso mit den Versorgungsunternehmen, um nur die beiden wichtigsten Fidesz-Themen des aktuellen Wahlkampfs, also die „Abrechnung mit den Banken“ und die „Wohnnebenkostensenkung“, zu nennen.
Mit diesen beiden zutiefst linken und bürgernahen Themen diktiert der Fidesz praktisch den Diskurs und inszeniert sich als eine Partei, die die Interessen des „einfachen Bürgers“ nachvollziehbar vertritt. Auch sonst findet man beim Fidesz übrigens vieles, was man in Deutschland eher im Programm der Gysi-Partei vermuten würde: angefangen von der Idee des starken, paternalistischen Staates bis hin zu ur-kommunistischen Ideen wie etwa der Verstaatlichung von Unternehmen der Schwerindustrie und von Versorgungsunternehmen.
Der Fidesz hat linke Themen inzwischen so authentisch besetzt, dass es praktisch unmöglich ist, diese Partei thematisch von links zu überholen. Die ungarischen Linken versuchen es daher erst gar nicht. Vielleicht, weil für sie tatsächlich keine massenwirksamen linken Themen mehr übrig sind, vielleicht aber auch, weil es bei ihrer Vergangenheit ohnehin wenig glaubhaft klingen würde und zudem nicht gerade originell wäre, wenn sie auf linke Fidesz-Themen aufspringen und etwa eine noch umfangreichere Schröpfung von Energieunternehmen und Banken fordern würden.
Statt dem Fidesz bei den ohnehin von ihm besetzten „harten“ Themen hinterher zu hecheln, haben sich Ungarns Linke daher inzwischen eher auf „weiche“ Themen eingeschossen, allen voran auf die Geißelung des der Regierung unterstellten Abbaus von Demokratie, Pressefreiheit und ähnlichen Dingen. Dafür werden sie dann zwar regelmäßig von westlichen Beobachtern als Helden gefeiert, beim Buhlen um Wählerstimmen erweisen sich diese Themen gegenüber den harten Portemonnaie-Themen des Fidesz jedoch als zweitklassig.
Die Chancenlosigkeit, die sich daraus zwangsläufig ergibt, führt wiederum dazu, dass für linke Parteien in Ungarn einerseits die informellen Geldhähne verschlossen sind, andererseits auch das Spitzenpersonal dünn gesät ist. Bevor sich etwa der inzwischen wieder entsorgte Ferenc Falus breitschlagen ließ, in Budapest als OB-Kandidat der Linken ins Rennen zu gehen, hatten die ihn nominierenden Parteien bereits bei etwa zwei Dutzend teils deutlich charismatischeren und prominenteren Personen vergeblich angeklopft. Der unfreiwillig zum linken Spitzenkandidaten avancierte Bokros ist nun zwar prominent, aber alles andere als links… Derzeit sieht es also ganz danach aus, als hätten Ungarns Linke gegen den Fidesz so lange keine Chance, solange sich diese Partei bei der eher links und antikapitalistisch eingestellten Bevölkerung besser und glaubwürdiger als Anwalt harter linker Themen darstellen kann.
Die Situation in Ungarn ist also alles andere als eindeutig. Bei vielen Themen ist es einfach notwendig, genauer hinzuschauen, gründlicher nachzudenken und differenzierter zu urteilen. Wir freuen uns, wenn Ihnen unsere Zeitung dabei ein Anhaltspunkt ist.Auch in diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und am Sonntag eine gute Wahl.
Jan Mainka
Chefredakteur & Herausgeber
Lieber Jan Mainka,
nachvollziehbar, was Sie schreiben – jedenfalls für die, die die jüngere ungarische Geschichte kennen und sich dem Thema Fidesz ohne Scheuklappen nähern. Es hilft auch der Demokratie im Westen nicht, wenn Katastrophen wie die MSZP und SZDSZ – Jahre verheimlicht werden. Bürger, Politiker und Journalisten im Westen könnten aber aus dieser Geschichte lernen.
So stehen die linken Denker, die eher den Namen -Liberalisten- verdient haben, dem Phänomen Orbán hilflos gegenüber. Nicht in Wien oder Hamburg wird die nächste ungarische Wahl gewonnen, sondern in Budapest.
Natürlich ist es auch wichtig, Parteiprogramme zu kennen. Ich meine, hier erweist sich Fidesz als konservativ, national und an der Mittelschicht orientiert. Fidesz hat ein traditionelles, christliches Familienbild (illiberal?)
Die Steuerpolitik des Fidesz ist nicht links. Wenn alle 16% Einkommenssteuer- die Reichen wie die armen – zahlen, so ist das alles andere als gerecht, sozial und klug. Der Versuch, an anderer Stelle dann wieder von oben nach unten umzuverteilen, führt beim kleinen Mann zu dem Gefühl, von Mitleid und Wohlfahrt abhängig zu sein.
In Europa sollte Raum und Akzeptanz für viele politische Strömungen sein.
Die alten Bezeichnungen und Verständnisse von links und rechts haben offenbar ausgedient.