Der Winter scheint bei Temperaturen um 20 Grad zwar noch weit entfernt und doch: In weniger als fünf Wochen beginnt in der Obdachlosenversorgung die sogenannte Krisenzeit. Laut Schätzungen der UNO leben in Budapest etwa 8.000 Menschen auf der Straße, in ganz Ungarn sind es rund 30.000. Die Zahlen zeigen, Obdachlosigkeit ist kein Problem, über das die Politik hinwegsehen sollte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung versuchte gemeinsam mit dem Think Tank Political Capital sowie Soziologen, Sozialarbeitern und Politikern, Antworten auf die dringendsten Fragen zu finden.
Péter Krekó, Direktor von Political Capital, stellte zu Beginn der Konferenz fest, dass Obdachlose in der Politik derzeit oftmals als Sündenböcke herhalten müssen, deren Wahrnehmung nur noch entfernt an die von Menschen erinnert. Dabei, so Krekó, sei der Großteil der Gesellschaft den Gestrauchelten gegenüber weit positiver und hilfsbereiter eingestellt, als es der Duktus einiger führender Politiker vermuten lässt.
Sein Kollege Attila Juhász bestätigte mit Auszügen aus einer jüngst veröffentlichten Studie diesen Eindruck. Mehr als 50 Prozent der Befragten würden eher helfen als bestrafen. „Wobei eine Unterscheidung zwischen Obdachlosen, Wohnungslosen und Heimatlosen gemacht werden muss, um das Problem zu verstehen“, so Juhász. Péter Győri von der größten Obdachlosenhilfe in Budapest stimmt zu: Wohnungslosigkeit bedeute nicht zwangsläufig Obdachlosigkeit, sei aber ein grundlegender Bestandteil des Problems beziehungsweise der Lösung. Győri: „Seit der Wende gibt es so gut wie keinen sozialen Wohnungsbau, wer einmal in Schwierigkeiten gerät mit der Miete oder der Kredittilgung hat kaum eine Alternative.” Tatsächlich stehen viele Menschen in Budapest heute zwar in Lohn und Brot, jedoch gleichzeitig auch vor der Frage: Essen oder Miete? Auf diesen dramatischen Mangel an bezahlbarem Wohnraum will seit dem vergangen Samstag auch die Gruppe „A Város Mindenkié” (Die Stadt gehört allen) aufmerksam machen. Das ehemalige Privatsanatorium in der Benczúr utca 4 wird seit dem Wochenende von etwa 60 Aktivisten und Sympathisanten der Gruppe besetzt. Das Gebäude ist seit mehreren Jahren im Besitz einer Offshore-Firma. Das einstige Prachtgebäude steht seit langem ungenutzt. „Dabei könnten hier Sozialwohnungen ausgebaut werden, die so dringend benötigt werden”, argumentiert die Gruppe.
Menhely-Kuratoriumsmitglied Győri sieht hier vor allem die Politik in der Pflicht, „aber wir gehen wieder so in die Kommunalwahlen, dass die Kandidaten komplett ohne Plan für die Lösung des Wohnproblems sind”. So sei es zwischen den Bezirken und der Stadtführung gang und gäbe, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, ohne auch nur im Ansatz für eine Lösung einzustehen. So kommt es auch, dass fast alle Unterkünfte für Obdachlose fast rund ums Jahr mit kompletter Auslastung arbeiten. Dabei, so ist sich Győri sicher, könnten die Bezirke günstigen Wohnraum zur Verfügung stellen. Das Problem sei brennend, erklärt auch Endre Hann vom Meinungsforschungsinstitut Médian, denn „sieben Prozent der ungarischen Gesellschaft haben einen engen Freund oder ein Familienmitglied, das auf der Straße lebt”.
Wahlkampfveranstaltung ohne Erkenntnisse
Fragen, wie beispielsweise die akute Wohnungsnot bekämpft werden könnte, die im zweiten Panel eigentlich hätten beantwortet werden sollen. Doch leider nutzten die anwesenden Politiker diese Gelegenheit lieber, um sich selbst in ein besseres oder ihre politischen Gegner in ein schlechteres Licht zu rücken. Der Einladung der FES und Political Capital waren Zoltán Bodnár, Ungarische Liberale Partei, Péter Juhász, Gründer der Milla, Kandidat im V. Bezirk für Gemeinsam-Dialog, Ágnes Kunhalmi, Präsidentin der Budapester MSZP, Ágnes Osztolykán von der grünen LMP und der OB-Kanidat der rechtsextremen Partei Jobbik, Gábor Staudt, gefolgt.
Neben sehr allgemein gehaltenen Vorschlägen („Es muss mehr bezahlbaren Wohnraum geben, dessen Kosten vom Staat für Obdachlose übernommen werden”, Juhász, Gemeinsam-Dialog) bishin zu Präventionsmaßnahmen („Eine Familie, die ihre Nebenkosten seit drei Monaten nicht bezahlen kann, ist mit weniger Geldmitteln vor Wohnungslosigkeit zu retten als ebendiese Familie aus der Wohnungslosigkeit herauszuholen” Kúnhalmi, MSZP) diskutierten die Teilnehmer zumeist aneinander vorbei. Ein wirklicher Austausch zwischen den Politikern kam nicht zustande, einzig Ágnes Osztolykán ging Jobbik-Kandidat Staudt hart an, als dieser die Behauptung in den Raum stellte „ein Großteil der Obdachlosen will an ihrer Situation etwas ändern, aber es gibt eben diesen kleinen, renitenten Anteil, der sich nicht helfen lassen will.” Für diesen schlug Staudt die Politik der „harten Hand” vor. Die Politikwissenschaftlerin Osztolykán reagierte mit klaren Worten: „Die Behauptung ‘Der will nicht, dass man ihm hilft’ macht mich wütend!” Osztolykán wies unter hörbarer Zustimmung des (größtenteils Fach-) Publikums auf die Vielschichtigkeit des Obdachlosenproblems hin, die keinesfalls mit Schlagwörtern gelöst werden kann. Leider war dies auch der einzige Beitrag im Panel der Politiker, der wirklichen Nutzwert hatte. Statt sich aktiv untereinander und mit den anwesenden Fachleuten auszutauschen, wie dem immer stärker um sich greifenden Problem entgegengetreten werden kann, wurde Wahlkampf betrieben. Bedauerlich, dass es seitens der Politik scheinbar nicht mehr Willen zu Taten gibt, denn die „Aus den Augen, aus dem Sinn”-Strategie der Kriminalisierung der Obdachlosigkeit in der Innenstadt wird auch in diesem Winter wieder Menschenleben fordern.