Vor wenigen Wochen hat in Ungarn das neue Schuljahr begonnen. Doch wäre Ungarn nicht Ungarn, wenn auch das angebrochene Schuljahr nicht mit einem öffentlichen Aufschrei und Empörungsstürmen begonnen hätte. Gegenstand des Unmuts war neben dem fragwürdigen und unausgegorenen Inhalt einzelner Schulbücher die willkürliche Ernennung einer Direktorin in Miskolc. Lesen Sie im Folgenden eine Bestandsaufnahme.
Die neue Staatssekretärin für Bildung im Ministerium für Humanressourcen, Judit Bertalan Cunyiné, übte sich ostentativ in Optimismus. Im staatlichen Fernsehen sprach sie kürzlich von einem „ruhigen Beginn“ des Schuljahres ohne größere Erschütterungen. Die von linksliberalen Medien vorgebrachte Kritik am fragwürdigen Inhalt einzelner Schulbücher bezeichnete sie als „politisch motivierte Hetzkampagne“. In ihren Augen sei im ungarischen Bildungswesen alles in bester Ordnung.
Die Lehrergewerkschaften betrachten solche Äußerungen als Augenwischerei. Der Präsident der Demokratischen Gewerkschaft der Pädagogen (PDSZ), László Mendrey, etwa, macht sich ob der Ignoranz der politisch Verantwortlichen Luft: „Ich verstehe nicht, warum es so schwer ist zuzugeben, dass man Fehler gemacht hat.“ Mendrey und die PDSZ sind nicht die einzige Lehrergewerkschaft, die unzufrieden sind. Für praktisch alle Lehrerorganisationen des Landes ist die gegenwärtige Situation an den ungarischen Schulen unerquicklich.
Schulbücher wurden verspätet ausgeliefert
Während es im Vorjahr mit der zeitgerechten Auslieferung der Schulbücher haperte, stoßen sich Eltern und Lehrerorganisation heute vor allem am Inhalt des Lehrmaterials. Zur Erinnerung: Als Ergebnis der umstrittenen Bildungsreform der ehemaligen Staatssekretärin für Bildung, Rózsa Hoffmann, gab es im Schuljahr 2013/14 nur noch ein staatliches Unternehmen für die Distribution der Schulbücher: die Könyvtárellátó Nonprofit Kft. (Kello). Und diese versah ihre Arbeit in der Anfangsphase denkbar schlecht. Zahlreiche Schüler standen zu Schulbeginn ohne Schulbücher da.
Am 1. Oktober 2013, also rund ein Monat nach Schulbeginn, fehlten noch immer 38.116 Schulbücher in den ungarischen Schulen, selbst im Dezember warteten noch 50 Schulen auf 1.719 Schulbücher. Angesichts der Malaise im Vorjahr versuchte es die Regierung dieses Jahr besser zu machen. So spannte sie bei der Distribution des Lehrmaterials nicht nur die Ungarische Post ein, sondern auch staatlich entlohnte Arbeiter, die in Diensten des Gemeinwohls stehen (közmunkások) und, ja, die Polizei. Gleichwohl gab es auch dieses Jahr wieder Verspätungen, wenngleich in weit geringerem Umfang.
Während der Staat die Verteilung der Schulbücher also einigermaßen in den Griff bekam, liegen im Hinblick auf den Inhalt des Lehrmaterials etliche Mängel offen zutage. Und das vor allem bei den von der Regierung Orbán verstaatlichten Schulbuchverlagen Nemzedékek Tudása Kiadó (deutsch: Verlag für das Wissen von Generationen) und Apáczai Tankönyvkiadó. Für den größten Aufschrei sorgte dabei ein Passus aus dem Literaturschulbuch der Siebtklässler.
Lehrbücher mit fragwürdigem Inhalt
Unter dem Titel „Bewunderung des Westens heute“ heißt es dort, dass die heutige ungarische Jugend vielmehr die schlechten Konsumgewohnheiten des Westens, darunter den ungesunden Verzehr von Hamburgern und das Trinken von Coca Cola, den abstumpfenden Konsum von Computerspielen und Musik-TV und den Zeitvertreib in Einkaufstempeln (pláza), übernommen und verinnerlicht habe anstatt des Anspruchs auf eine gerechtere Gesellschaft und Hochkultur. Entrüstung erregte auch ein Schulbuch, das verschiedene Gesellschaftsschichten völlig klischeehaft darstellt. Überdies soll auch ein Physik-Lehrbuch zum Teil vollkommen sinnlose Aufgaben enthalten.
Kritik brachten den Entscheidungsträgern des Bildungssektors auch die 50 neuen Schulbücher ein, die vom Bildungsforschungs- und Entwicklungs-Institut (OFI) zur „Erprobung“ ausgearbeitet worden waren. Kritisiert wird, dass OFI diese Lehrbücher im Eilverfahren entwickelt habe. Nachdem die Regierung ihre Ausarbeitung zu Beginn des Jahres in Auftrag gegeben hatte, wurden sie im April bereits der Öffentlichkeit vorgestellt – mit Unmengen an Fehlern und Unzulänglichkeiten. Diese konnten in der Zwischenzeit zwar weitgehend behoben werden, allerdings gelangten die korrigierten Bücher erst kurz vor Beginn des Schuljahres zu den Pädagogen.
Lehrer hatten nicht genug Zeit zur Vorbereitung
Die Präsidentin der Gewerkschaft der Pädagogen (PSZ), Istvánné Galló, kritisiert: „Die Lehrer haben die neuen Lehrbücher fast zeitgleich mit den Schülern erhalten, weshalb sie kaum Zeit hatten, einen durchdachten Lehrplan zu erstellen.“ Im Hinblick auf die Verstaatlichung des ungarischen Schulbuchmarktes übt Galló ebenfalls Kritik. Laut Galló haben die Eltern überhaupt keine Möglichkeit mehr, bei der Erstellung der Lehrbücher mitzuwirken.
Die Lehrer wiederum hätten das Gefühl, dass sie in ihrer Freiheit in Sachen Methodik fortan eingeschränkt sind. Der Vorsitzende des Nationalen Pädagogen-Rates, Péter Horváth, ergänzt: Es sei zwar positiv, dass alle Schulen einheitliche Lehrbücher bekommen. Andererseits habe der vielfältige Schulbuchmarkt von einst die verschiedenen Ansprüche der pädagogisch unterschiedlich ausgerichteten Schulen sehr gut abgedeckt.
Schuldirektorin wurde „von oben“ installiert
Für Aufruhr sorgte zu Beginn des Schuljahres auch die Ernennung einer neuen Direktorin in einer zweisprachigen Grundschule (Ungarisch/Englisch) in der nordostungarischen Stadt Miskolc. Nachdem eine öffentliche Ausschreibung für den Posten des Direktors vom Ministerium für Humanressourcen aus unerklärlichen Gründen annulliert worden war, wurde eine neue Direktorin in der Person von Enikő Dávid ohne vorherige Absprache mit dem Lehrergremium und Elternrat kurzerhand „von oben“ installiert.
Lehrergremium und Elternrat hatten sich für den bisherigen Direktor der Schule ausgesprochen. Nach zwei Demonstrationen gegen die willkürliche Ernennung von Dávid, gab diese dem zivilen Druck schließlich nach und reichte diese Woche ihren Rücktritt ein. In Ungarn ist es seit jeher Usus, dass die Schuldirektoren auf Grundlage von politischen Erwägungen ernannt werden. Dies war auch unter den linksliberalen Regierungen (2002 bis 2010) gang und gäbe.
Kritik wird en bloc auch an der extremen Zentralisierung des Bildungswesens geäußert, die das Resultat der Bildungsreform unter der Federführung der früheren Staatssekretärin für Bildung, Rózsa Hoffmann, ist. Péter Horváth etwa macht darauf aufmerksam, dass ein System, in dem auf jede Frage „nur in der Zentrale geantwortet werden kann“, nicht flexibel und mithin äußerst schwerfällig sei. Aus diesem Grund plädieren die Fachleute dafür, das Bildungssystem wieder mehr zu dezentralisieren, um mehr Effizienz, sowohl in bürokratischer als auch in finanzieller Hinsicht, zu schaffen.