Inwieweit unterscheidet sich der dritte Wahlkampf in diesem Jahr von den zwei früheren (Parlamentswahl und Europawahl; Anm.)?
Bei Kommunalwahlen ist es nicht üblich, die Gesamtsituation des Landes zu beleuchten. Die Oppositionsparteien konzentrieren sich vor allem auf Teilprobleme und einzelne Wahlbezirke. Während die (linke; Anm.) Partei „Gemeinsam-Dialog für Ungarn” sich etwa darauf fokussiert, möglichst viele Sitze in den Budapester Bezirken zu ergattern (die Linke ist in Budapest traditionell sehr stark; Anm.), richtet die (rechtsradikale; Anm.) Partei Jobbik ihr Augenmerk auf die Bürgermeistersitze in den kleineren Gemeinden und auf die Sitze in den Komitatsversammlungen (Jobbik ist vor allem in den ländlichen Regionen sehr stark; Anm.). Die (nationalkonservative; Anm.) Regierungspartei Fidesz wird aufgrund ihrer politischen und finanziellen Sonderstellung wohl die einzige politische Kraft im Wahlkampf sein, die versuchen wird, eine landesweit einheitliche Kampagne zu führen. Freilich, in einzelnen hart umkämpften Bezirken und Städten, etwa Zugló und der Innenstadt in Budapest sowie in Szeged (in der südostungarischen Stadt ist der Sozialist László Botka Bürgermeister; Anm.), wird der Fidesz einen spezifisch ausgerichteten Wahlkampf vorantreiben.
Der Budapester OB-Kandidat der vereinten Linken, Ferenc Falus, stolpert von einem Fehler in den nächsten. Hat er überhaupt reale Chancen auf einen Wahlsieg?
Bei den Europawahlen im Mai haben sich in Budapest die Kräfteverhältnisse im Lager der Linken verschoben. Die MSZP (Sozialisten; Anm.) wurde von vermeintlich kleineren Parteien überholt (von Ex-Premier Ferenc Gyurcsánys Demokratischer Koalition [DK]; Anm.). Angesichts dieser völlig neuen Konstellation im Lager der Linken war es denn auch besonders schwierig, einen Konsenskandidaten zu finden. Falus hat tatsächlich sehr früh Fehler gemacht. Und vorläufig ist auch nicht jenes Charisma zu sehen, mit dem er die Wahl für sich entscheiden könnte. Zudem herrscht seit Monaten eine Stimmung in Budapest, in der es fast unmöglich ist, István Tarlós das Oberbürgermeisteramt zu entreißen.
Welche Faktoren kommen István Tarlós zugute?
Zum einen kommt der Vorteil zum Tragen, den ein Amtsinhaber immer genießt. Sofern sie in keine Skandale verwickelt sind, schneiden die Bürgermeister – sei es in den Gemeinden, den Budapester Bezirken oder Komitatsstädten – in der Regel besser ab als ihre Parteien. László Botka (MSZP; Anm.) in Szeged, József Tóth (MSZP; Anm.) im XIII. Bezirk oder Lajos Kósa (Fidesz; Anm.) in Debrecen erlangen stets mehr Wählerstimmen als ihre Parteien. Seinerzeit war dies auch für Gábor Demszky (ehemaliger Oberbürgermeister von Budapest zwischen 1990 und 2010; Anm.) zutreffend, und nun eben auch für István Tarlós. Dieser Vorteil ist auf vielerlei Gründe zurückzuführen: die örtliche Bekanntheit, die Übergabe von diversen Infrastrukturprojekten, die Disposition über die Arbeitsplätze in der Lokalverwaltung oder der ständige und unmittelbare Kontakt mit den Wählern. Es kommt also nicht von ungefähr, dass etwa die MSZP dort die besten Aussichten hat, wo sie amtierende Bürgermeister stellt: zum Beispiel in Szeged oder in einigen hauptstädtischen Bezirken: Kispest, Angyalföld, Pesterzsébet.
Was bedeutet dies in Zahlen?
Tarlós wird mindestens vier bis fünf Prozentpunkte besser dastehen als der Fidesz insgesamt. Hinzu kommt, dass etwa die Hälfte der Jobbik-Wähler und ein Teil der (Ökopartei; Anm.) LMP für Tarlós stimmen wird. Damit ist zum Beispiel zu erklären, dass der OB-Kandidat von Jobbik, Gábor Staudt, im Jahr 2010 nur knapp sieben Prozent der Wählerstimmen erlangen konnte. Auch die Jobbik-Wähler wissen, dass ihr Kandidat keine Chance auf den Sieg hat. Der Fidesz erlangte im Frühjahr 38 Prozent der Stimmen in Budapest. In Anbetracht des soeben Gesagten hätte Tarlós wohl mindestens 42 Prozent der Wählerstimmen errungen, und bei den Europawahlen sogar noch mehr. Und vergessen wir nicht die in der Hauptstadt starke LMP und die vielen anderen linken Parteien. Während es 2010 vier Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters gab, sind es bei der jetzigen Wahl insgesamt zehn, und sie alle werden wohl Falus Wählerstimmen abspenstig machen. Alles in allem sind die Chancen also ziemlich gering, dass Ferenc Falus die Oberbürgermeisterwahl in Budapest gewinnen wird.
In welchen Bezirken und Städten hat die vereinte Linke überhaupt Chancen auf einen Sieg?
Das Republikon Institut geht davon aus, dass die Linke in Budapest besser abschneiden wird als vor vier Jahren. 2010 errang die MSZP drei Bezirke, jetzt erwarten wir, dass die Linke in der Hauptstadt vier bis fünf Bezirks-Wahlsiege einfahren wird, doch selbst sieben bis acht Siege sind nicht ausgeschlossen. Neben den drei Bezirken, wo die MSZP den Bürgermeister stellt, könnte die Linke noch in Zugló und Újpest gewinnen. In Zugló kommen der Linken die Korruptionsaffären der örtlichen Führung zugute, Újpest wiederum ist einer jener Bezirke, deren Wählerschaft besonders links ist. Darüber hinaus hat die Linke auch im XXI., X. und XV. reale Chancen auf einen Sieg.
Und wie wird es nach den Kommunalwahlen in den Komitatsversammlungen aussehen?
Es ist ziemlich sicher, dass überall der Fidesz gewinnen wird. Die Frage ist nur, ob die Regierungspartei die absolute Mehrheit in allen Komitatsverwaltungen erringen wird oder nicht. Unserer Meinung nach wird dies nicht geschehen. Es ist auch davon auszugehen, dass Jobbik in den meisten Komitatsverwaltungen hinter dem Fidesz zweitstärkste Kraft sein wird.
Welche Chancen hat die Linke in den Komitatsstädten?
Neben Szeged hat die Linke noch in Miskolc (Nordostungarn; Anm.) Chancen auf einen Sieg, allerdings ist dieser angesichts des Hickhacks um Albert Pásztor (Bürgermeisterkandidat der vereinten Linken; Anm.) höchst fragwürdig. Eventuell könnte die Linke auch noch in Salgotarján (Nordostungarn; Anm.) und Szombathely (Westungarn; Anm.) aus jeweils unterschiedlichen Gründen gewinnen. Gleichwohl glaube ich, dass die Linke vor allem in Budapest ihre Position stärken wird.
Womit rechnen Sie nach den Wahlen?
In beiden politischen Lagern wird sich im Grunde das fortsetzen, was schon bisher kennzeichnend war, nur mit größerer Intensität. Auf Seiten der Linken werden MSZP, DK und „Gemeinsam-Dialog für Ungarn” weiterhin um die Vormachtstellung wetteifern. Früher oder später sollten diese Parteien aber zu folgender Einsicht gelangen: Gegen den Fidesz haben sie weder getrennt noch in einer Allianz eine Chance. Die Linke sollte sich vielmehr Gedanken über innovative Formeln, Denkweisen und neue organisatorische Lösungen machen.
Und der Fidesz?
Beim Fidesz wird sich der Kampf um die wirtschaftlichen Positionen verschärfen, stehen doch keine Wahlen mehr bevor, die dämpfend auf die inneren Gegensätze wirken. Paradoxerweise werden die Kämpfe innerhalb des Fidesz umso heftiger ausfallen, je schwächer die Linke ist, da es keinen äußeren Druck gibt und der Zwang, die Reihen zu schließen, nicht besteht.
Das hier in Auszügen abgedruckte Interview erschien am 11. September 2014 in der linksliberalen Wochenzeitung Magyar Narancs.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar