„Realistisch“ und „die wirtschaftspolitischen Bestrebungen der ungarischen Regierung untermauernd“, so schätzt das Volkswirtschaftsministerium jenen Bericht ein, den die Europäische Kommission dieser Tage vorlegte.
Das gibt es auch nicht alle Tage: Das Volkswirtschaftsministerium reagierte mit Lob auf den Europäischen Wettbewerbsfähigkeitsbericht 2014, den die EU-Kommission vergangene Woche vorstellte. Denn als Unterpfand für den wirtschaftlichen Aufschwung in Europa bezeichnet dieses Dokument alle Maßnahmen, mit denen die Realwirtschaft und die Industrie gestärkt werden. Zudem stimme es mit dem Werturteil der Regierung überein, wenn Ungarn in dem Bericht in die Gruppe jener Länder eingeordnet wird, die zwar von einer relativ niedrigen Basis aus starten, jedoch Potenzial für eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit zeigen. Das Fachressort erinnert sogleich an den aktuellen Europarekord hinsichtlich des Wachstums, der es der Regierung erlaubte, ihre Prognose für das laufende Jahr von 2,3 auf 3,1 Prozent anzuheben. Zusammen mit dem unter 3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gehaltenen Defizit des Staatshaushaltes und der nahe an null gelegenen Inflation stelle sich ein positives Gesamtbild dar. Insbesondere dank des Fahrzeugbaus erbringt die Industrie momentan Spitzenleistungen.
Wachstumsprogramm der Nationalbank gewürdigt
Die Regierung möchte die staatlichen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (F+E) schrittweise auf 1,8 Prozent am BIP erhöhen, womit die im vergangenen Jahrzehnt typischen Beiträge nahezu verdoppelt würden. Im Rahmen der soeben mit der EU-Kommission abgeschlossenen Partnerschaftsvereinbarung wird Ungarn 60 Prozent der zwischen 2014 und 2020 fließenden EU-Fördermittel in die Wirtschaftsentwicklung lenken, was für die einheimischen Klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) zum Beispiel bedeutet, dass sie gegenüber dem vorigen Haushaltszyklus verfünffachte Chancen auf Investitionsbeihilfe erhalten. In dem Bericht aus Brüssel wird neben dem Innovationsgeist auch eine Reformierung der Berufsausbildung angemahnt, was Budapest bereits vor Jahren erkannte, so dass in diesem Prozess die ersten Ergebnisse sichtbar werden. Schließlich würdige der Bericht den Erfolg des Programms der Notenbank für Wachstumskredite, dränge insgesamt die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten auf eine verstärkte Reindustrialisierung und verweise auf die überhöhten Energiepreise, geradeso als ob die Autoren die unorthodoxen Wirtschaftslenker aus Budapest gewesen wären.
Der europäische Wettbewerbsfähigkeitsbericht analysiert die Leistungsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes in der EU, mit den Schwerpunkten Zugang zu Finanzmitteln, Internationalisierung von KMU, Effizienz der öffentlichen Verwaltung sowie Innovation im Verlauf des Konjunkturzyklus. Weil sie von zentraler Relevanz für die Wettbewerbsfähigkeit aller Unternehmen sind, werden gesondert Energiekosten und Energieeffizienz beleuchtet. Die wichtigsten Erkenntnisse des 230 Seiten starken Berichts: Die Wettbewerbsstärke des verarbeitenden Gewerbes ist auch nach der Rezession intakt. Der sinkende Anteil an der Wertschöpfung erklärt sich in erster Linie aus sinkenden relativen Preisen im Verhältnis zum Dienstleistungssektor. Wer also auf Reindustrialisierung setzt, darf nicht blind davon ausgehen, dass sich deren positive Effekte automatisch in einem höheren Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung niederschlagen werden.
Produktinnovationen sind ausschlaggebend
Kleinere und jüngere Unternehmen haben zu leiden, weil die Finanzmärkte in ihrem Falle selbst tragfähige Projekte kaum mittragen. Die Effizienz der öffentlichen Verwaltung hat Einfluss auf Beschäftigung und Wachstum von Unternehmen, ohne dass jedoch die Verwaltung an sich maßgebliche Impulse spenden kann. Ausschlaggebend sind vielmehr Produktinnovationen, die sich ganz besonders in Zeiten der Hochkonjunktur entfalten können, aber auch bei Rezession zum Erhalt von Arbeitsplätzen beitragen. Hauptsächlich wegen steigender Steuern, Abgaben und Netzkosten liegen Strom- und Gaspreise in der EU höher, als auf allen wichtigen Konkurrenzmärkten. Eine sinkende Energieintensität gegenüber internationalen Wettbewerbern kann diesen Nachteil nicht vollends kompensieren. Das stellt eine Herausforderung dar, selbst wenn der Anteil der Energiekosten in fortgeschrittenen Wirtschaften unter fünf Prozent der Bruttoproduktion liegt.
Der Bericht rät, auf den vorhandenen Stärken aufzubauen, um die längste und schwerste Rezession in der Geschichte der EU erfolgreich abzuschütteln. Branchen innerhalb des verarbeitenden Gewerbes mit komparativen Vorteilen sind insbesondere die pharmazeutische Industrie, die chemische Industrie, der Maschinen- und Anlagenbau sowie die Fahrzeugindustrie, also gerade die Wirtschaftsbereiche, in denen Ungarn gut aufgestellt scheint. Der inländische Anteil der Wertschöpfung an den Ausfuhren liegt in Europa etwa gleichauf mit den USA und Japan, bei Ausgereiftheit und Komplexität der Exportwaren gehört die EU obendrein zu den absoluten Spitzenreitern – hier haben die Staaten der Osterweiterung gegenüber 1995 enorm zugelegt. Schließlich stützt sich das verarbeitende Gewerbe in der EU auf einen zunehmenden Anteil hochqualifizierter Arbeitskräfte, die schwierige und häufig spezialisierte Aufgaben ausführen.
Die EU hat sich das Ziel gesetzt, den Anteil der Industrie an der Wertschöpfung wieder auf 20 Prozent anzuheben. Paradoxerweise wird der Abstand zum Ziel aber darum nicht geringer, weil sich die Produktivitätsschere gegenüber anderen Zweigen der Volkswirtschaft öffnet. Ungarn gehört zu jenen acht Staaten, die schon heute mehr als 20 Prozent ihrer Wertschöpfung der Industrie zuschreiben. In dieser Statistik liegen Tschechien und Rumänien mit ungefähr einem Viertel in Front, gefolgt von Irland und Ungarn, Slowakei und Deutschland. Tragisch nur, dass die einheimischen KMU daran nur einen verschwindenden Anteil halten und Ungarn ohne die Investitionen in die Automobilwerke sowie bei deren Zulieferern gegenüber 2008 vermutlich eher noch zurückgefallen wäre.
Die F+E-Ausgaben sollen in der EU bis 2020 auf 3 Prozent am BIP hochgeschraubt werden. Davon ist Ungarn meilenweit entfernt. Immerhin ist der Innovationsrückstand seit 2008 leicht abgebaut worden, doch wird die Orbán-Regierung nicht über Maßen auf die KMU setzen können, von denen nur etwa jedes achte „Innovation“ auf die Fahnen geschrieben hat. Hinsichtlich qualifizierter Arbeitskräfte zeigt sich Ungarn gerne stolz, doch landete es in dem EU-Bericht neben den Balten und den Österreichern auf einem hinteren Platz, was die Verfügbarkeit von Fachkräften anbelangt.
Schließlich möchte die EU die Bruttoanlageinvestitionen auf einem Niveau von 23 Prozent am BIP sehen – Ungarn wird in diesem Jahr den Tiefpunkt von 16-17 Prozent hinter sich lassen. Weil auch Kredite kaum erreichbar sind, die Energie weiterhin in unglaublichem Maße verschwendet wird (was die Politik der sinkenden Wohnnebenkosten noch fördert) und das Staatswesen so ineffizient wie in den wenigsten EU-Ländern agiert, gehört Ungarn aus vielen verständlichen Gründen leider nicht zu der Staatengruppe, wo das verarbeitende Gewerbe heute besser erfüllt, als im Jahr des Ausbruchs der Weltwirtschaftskrise. Und wer sind diese Staaten? Vor allem Polen, die Slowakei und Rumänien.