
Diskussion über Europa: Ökonom László Csaba, Geschäftsmann Konrad Kreuzer, Journalist Jan Mainka, EU-Experte Péter Balázs und Rektor András Masát. (Fotos: Nóra Halász)
Normalerweise bieten der Palast der Künste (Művészetek Palotája, kurz: MŰPA) und das Festivalorchester (Iván Fischer) dem Publikum Musik. Diesen Montag boten sie dem Publikum im Rahmen der Veranstaltungsreihe Bridging Europe jedoch einmal eine Podiumsdiskussion.
Ganz im Zeichen des 25. Jahrestags der von Ungarn vollzogenen Öffnung seiner Westgrenze für ostdeutsche Flüchtlinge war die zum zweiten Mal stattfindende Reihe, zu der auch einige musikalische Beiträge gehörten, in diesem Jahr Deutschland gewidmet. Die Podiumsdiskussion trug den Titel: „Die Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen im Spiegel von Wirtschaft und Kultur“. Moderiert wurde das Gespräch vom Herausgeber und Chefredakteur dieser Zeitung, Jan Mainka. Rede und Antwort standen ihm der ehemalige ungarische Außenminister (2009-2010) und EU-Kommissar (2004), Péter Balázs, der Ökonom und Universitätsprofessor an der Corvinus Universität und der Central European University (CEU), László Csaba, der ehemalige Leiter des Collegium Hungaricum in Berlin und heutige Rektor der deutschsprachigen Andrássy Universität, András Masát, und der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Bayernwerk Hungária Rt. (1997-2000) und E.ON Hungária Zrt. (2000-2013), Konrad Kreuzer.
Kultur kann mithelfen, Europa aus der Identitätskrise zu ziehen
In seinen einleitenden Worten bemerkte der Generaldirektor des MŰPA, Csaba Káel, dass 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die europäische Identität auch deshalb in einer Krise stecke, weil es schlechterdings keinen breiten Dialog über Europa gebe. Er gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Kreativindustrie und Kultur einen wichtigen Beitrag leisten könnten, um Europa aus der Identitätskrise herauszuführen.
Jan Mainka kam in seinem Prolog zunächst auf eine Beobachtung zu sprechen, die er jüngst beim Stadtwäldchen machte. Dort befinde sich das, im Mai 2004 zeitgleich und aus Anlass von Ungarns EU-Beitritt eingeweihte „Zeitrad“ in einem ziemlich verwahrlosten Zustand und würde nicht mehr funktionieren. Dies sei für ihn so etwas wie ein Sinnbild für die gegenwärtig zu spürende ablehnende oder zumindest skeptische Haltung vieler Ungarn gegenüber der Europäischen Union. Von der Euphorie und mehrheitlich positiven Stimmung von damals sei nicht mehr viel zu spüren. Auch das Aufeinanderzubewegen, sowohl hinsichtlich der Angleichung der Lebensverhältnisse als auch der Werte sei ins Stocken geraten.

Ehemaliger E.ON Hungaria-Vorstandsvorsitzender Konrad Kreuzer (Mitte): „Je investitionsfreundlicher ein Land ist, umso mehr Wachstum hat es.“
Deutsch-ungarisches Verhältnis ist „nachhaltig, tief und ehrlich“
Wie bei jeder Ehekrise sollte nun auf beiden Seiten nach Ursachen dafür gesucht werden. Auf die Frage, was denn in den Beziehungen zwischen Ungarn und der Europäischen Union schiefgelaufen sei, gab Péter Balázs zunächst eine Antwort, die sich speziell auf das deutsch-ungarische Verhältnis bezog. Das Verhältnis zwischen Ungarn und Deutschland sei „nachhaltig, tief und ehrlich“. Er verwies aber auch darauf, dass sich in Deutschland die „grundlegenden Werte“ nicht verändert hätten, in Ungarn dagegen schon.
Während in Deutschland die staatlichen Institutionen unverändert geblieben seien und das „System“ stabil sei, seien in Ungarn fundamentale Veränderungen im institutionellen Gefüge auf den Weg gebracht worden. Auch was die Zukunft der EU anlangt, gebe es zwischen Berlin und Budapest einen eklatanten Unterschied. Deutschland gehe davon aus, dass die Union auf dem aufsteigenden Ast sei, Ungarn unter der Regierung von Viktor Orbán gebe sich hingegen dahingehend überzeugt, dass sich die EU vielmehr auf dem absteigenden Ast befinde.
Auch frühere Regierungen versuchten sich schon an der Ostöffnung
Aus dieser Einschätzung speise sich auch deren Überzeugung, verstärkt nach Partnern und Partnerschaften außerhalb der EU suchen zu müssen, setzte der Moderator diesen Gedankengang weiter fort. So wolle die Regierung nicht zuletzt mittels östlicher Länder das Volumen des mit Nicht-EU-Ländern abgewickelten Außenhandels bis 2018 auf ein Drittel ausweiten, noch längerfristiger schwebe Premier Orbán sogar ein Anteil von bis zu 50 Prozent vor. Der Ökonom László Csaba äußerte sich angesprochen auf diese Vision leicht skeptisch und platzierte die von der Regierung forcierte Ost-Öffnung in einem weiteren Kontext.
Der Osten, so Csaba, werde von den ungarischen Regierungen seit jeher mit Vorliebe als verheißungsvolle „märchenhafte Region“ betrachtet, die ihr Füllhorn über Ungarn ausschütten könnte. Für jede ungarische Nachwende-Regierung sei kennzeichnend, dass sie erstens dem ungarischen Fußball wieder Leben einhauchen, zweitens mit der Korruption aufräumen und schließlich drittens die Handelsbeziehungen des Landes mit den östlichen Ländern ankurbeln wolle. Der Ökonom mahnte, dass die „östliche Öffnung“ nicht mit einer „westlichen Abschottung“ einhergehen dürfe, was sich bisher aber auch mit den deklarierten Vorstellungen der Orbán-Regierung decke. Auch konnte er nicht verhehlen, dass in der deutlich zur Schau getragenen Ost-Öffnung auch eine gewisse Portion an – durch im Westen erfahrene Zurückweisung genährtem – Trotz mitschwinge.

Außenminister a.D. Péter Balázs sucht nach Erklärungen für eine gewisse Abkühlung des deutsch-ungarischen Verhältnisses: „In Deutschland haben sich die grundlegenden Werte nicht verändert, in Ungarn dagegen schon.“
Gefragt nach den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und Deutschland, stellte Konrad Kreuzer fest, dass diese nach wie vor ausgezeichnet funktionierten. Ausländische Investoren in Ungarn seien mehrheitlich nach wie vor zufrieden. Zu den guten deutsch-ungarischen Beziehungen gebe es „keine Alternative“, ebenso wenig aber auch zu den europäischen Grundwerten.
András Masát verwies auf die intensiven kulturellen Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland. Was die deutsche Sprache angeht, wies er darauf hin, dass sich ihre Rolle in Ungarn verändert habe, so sei das Deutsche gegenüber dem Englischen zunehmend ins Hintertreffen geraten. So sei etwa auch die Europäische Union für Ungarn vor allem über die englische Sprache zugänglich, so Masát. Die Europäisierung Ungarns sei bisher also auf Englisch vor sich gegangen. Gleichwohl sei aber auch die deutsche Sprache wieder im Kommen, die Andrássy Universität wäre ein positives Beispiel dieses Prozesses.
Nutznießer von EU-Förderungen sind Netto-Zahlern verpflichtet
Sodann stellte der Moderator die auch aus der ungarischen Praxis gewonnene These in den Raum, wonach sich die EU möglicherweise wieder vornehmlich als Wirtschaftsunion profilieren könnte, in der es mehr um Geld als um Werte gehe, und sie angesichts der vielen Widerstände von den Plänen zur Schaffung einer engen politischen und Werte-Union vorerst wieder etwas abrücken könnte. Schließlich sei die EU solange ein absolutes Erfolgsmodell gewesen, solange sie sich nicht auf das Gebiet der Politik und sogar einer Einheitswährung vorwagte. Péter Balázs sagte dazu, dass zwischen den Vorteilen (EU-Fördergelder) und den Pflichten der EU-Mitgliedsstaaten keine allzu große Kluft klaffen dürfe.
Seine Begründung: Um den Netto-Zahlern der Union, zumal Deutschland als größtem Netto-Zahler, nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Regierung in Berlin sei den deutschen Steuerzahlern schließlich Rechenschaft schuldig, wo ihre Steuergelder als Transferzahlungen im Rahmen der EU hinfließen und für welche Zwecke sie verwendet werden. Deshalb, so Balázs, würden insbesondere die neuen Mitgliedsländer der EU (2004) mit Argusaugen beobachtet.
Ungarn wird in zehn Jahren ein völlig durchschnittliches Land sein
Wo Ungarn innerhalb der Union in zehn Jahren stehen werde, wollte der Moderator daraufhin wissen, werde das Land eher wieder ein „ganz normales EU-Mitglied“ sein oder wird es gar parallel zu einer aufgeweichten EU-Mitgliedschaft dann vielleicht sogar irgendwelchen östlichen Allianzen angehören. László Csaba antwortete, dass er eher mit einem „durchschnittlichen, langweiligen“ Mitgliedsland rechne, das bis dahin hoffentlich auch schon den Euro eingeführt habe. Auf die zukünftige Rolle von Investoren für das Land angesprochen, unterstrich Konrad Kreuzer: „Je investitionsfreundlicher ein Land ist, umso mehr Wachstum hat es.“
Kreuzer fügte hinzu, dass der Lebensstandard nur durch ein besonderes Wirtschaftswachstum jenem des Westens angenähert werden könne. Dabei würden ausländische Investoren eine sehr wichtige Rolle spielen. In Sachen Wachstum gab er zu bedenken, dass dieses bei weitem nicht so dynamisch wäre, wenn deutsche Unternehmen wie Audi, Mercedes oder Bosch nicht im Land wären.
Es gibt keine allgemeine „konservative Wende“ innerhalb Europas
Angesprochen darauf, ob Ungarn nicht sogar als ausgesprochen modern betrachtet werden könne, da es derzeit auch in vielen anderen EU-Mitgliedsländern eine Rückbesinnung auf konservative Werte und nationale Interessen gebe, verwies László Csaba auf empirische Studien, die eine „konservative Wende“, wie er sich ausdrückte, nicht untermauerten. Er erklärte, dass die konservative Wende wohl mit jenen Ländern in Verbindung gebracht werde, wo konservative Regierungen den Bürgern in aggressiver Manier ihr Weltbild auferlegen wollten. Die Bürger indes, seien seiner Meinung nach dafür wenig empfänglich.
In ihren Schlussworten wiesen alle Teilnehmer in verschiedenen Worten unter anderem darauf hin, dass es bei der gegenwärtigen ungarischen Regierung durchaus Kommunikationsdefizite gäbe. Einerseits kommuniziere sie in vielen Fällen überhaupt nicht, andererseits finde sie nicht immer den richtigen Ton, wenn es um die Vermittlung ihrer Botschaften und Inhalte nach außen gehe. Hier könnte also mit wenigen Anstrengungen viel zur Verbesserung der Beziehungen Ungarns zu den anderen EU-Mitgliedsländern insbesondere Deutschland getan werden.