Die Serie erfreulicher makroökonomischer Daten will einfach nicht abreißen: Im Sommer kratzte die Wachstumszahl wieder an vier Prozent. Da derartiges in Ungarn seit 2006 nicht zu erleben war, möchte sich Aufbruchsstimmung verbreiten.
Zumal die Europäische Union in diesen schweren Zeiten nicht eben auf Wachstum getrimmt zu sein scheint. Die Ungarn glänzten nach einer ersten Schätzung des Zentralamtes für Statistik (KSH) mit einer drei vorm Komma – 3,9 Prozent Wachstum im II. Quartal sind achtjähriger Bestwert; saisonal und nach Arbeitstagen bereinigt bleiben noch 3,7 Prozent Plus – wozu nur noch die Letten, Litauer, Polen und Briten imstande waren. Nun ja, wenn die Volkswirtschaft Großbritanniens um 3,1 Prozent wächst, nimmt der Entwicklungsabstand zur ungarischen Volkswirtschaft leider noch zu. Im Falle Deutschlands und Österreichs aber besteht Anlass zu Hoffnung, denn Erstere legten auf Jahresebene um nur noch 1,3 Prozent, Letztere um 0,9 Prozent zu. Das verschafft Ungarn einen drei- bis vierfachen Wachstums-Multiplikator, auf dessen Grundlage sich kühne Pläne spinnen lassen.
Leichter Rückgang des Quartalswachstums
Mitte August hatte das KSH mitgeteilt, das ungarische Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei im II. Quartal gegenüber dem Vorjahr um 3,9 Prozent gestiegen; für das I. Halbjahr ergab sich ein Plus von 3,7 Prozent. Den überaus positiven Klang der ersten Schätzung relativierte ein auf 0,8 Prozent verlangsamter Zuwachs gegenüber dem vorangegangenen Quartal, hatte das Quartalswachstum doch im Winterhalbjahr zweimal hintereinander 1,1 Prozent erreicht. Von einem stetigen, ungebrochenen Anstieg der Wirtschaftsleistung kann deshalb nicht die Rede sein. In der kommenden Woche stellt das KSH die ausführlichen Datenreihen vor – bis dahin müssen wir uns mit verschiedenen Interpretationen der vorliegenden Schätzung zufrieden geben.
Das Volkswirtschaftsministerium hebt die Wachstumsprognose für das laufende Jahr auf 3,1 Prozent an, teilte Fachminister Mihály Varga in Reaktion auf die erfreulichen KSH-Zahlen mit. Im Konvergenzprogramm vom April hatte die Regierung noch vorsichtiger mit 2,3 Prozent BIP-Zuwachs gerechnet. Varga hob hervor, Ungarn habe bereits im I. Quartal zu den europäischen Ländern mit der stärksten Wachstumsdynamik gehört, im II. Quartal aber eindeutig die Spitzenposition erobern können. Viel wichtiger aber sei, dass die Struktur des Wachstums zunehmend ausgewogener und gesünder ausfalle. Steigende Einkommen werden endlich den Privatverbrauch ankurbeln. Dass die Konjunkturaussichten auch im weiteren Jahresverlauf positiv bewertet werden, begründete der Minister mit dem verbesserten Konsumklima, einer steigenden Zahl erteilter Baugenehmigungen und den prall gefüllten Auftragsbüchern der Unternehmen, die den Geschäftsklimaindex und die Investitionsbereitschaft klettern ließen.
Unsicherheit bezüglich des russisch-ukrainischen Konflikts
Minister Varga ließ in seiner Lagebeurteilung auch die bestehenden Risiken nicht unberücksichtigt. Als positiven Risikofaktor hinsichtlich der Entwicklung des Privatverbrauchs insbesondere in 2015 nannte er die bevorstehende Lösung des Problems der Fremdwährungskredite. (Diese sollen in Forint umgewandelt und die Lasten der Kreditnehmer dabei um bis zu einem Viertel gesenkt werden.) Noch immer nicht abzuschätzen seien die negativen Auswirkungen des russisch-ukrainischen Konflikts. Es sei jedoch
offensichtlich, dass eine Eskalation des Konflikts ganz Europa Schaden zufügen wird. Die ungarischen Exporteure bekämen die Auswirkungen der Sanktionen und der daraufhin von Moskau beschlossenen Gegenmaßnahmen bereits zu spüren. Das Volkswirtschaftsministerium nimmt eben wegen dieser Unsicherheiten vorläufig keine Überprüfung der Wachstumsprognose für 2015 vor, die somit weiterhin 2,5 Prozent beträgt.
Viel mehr wird Ungarns Wirtschaft nach dem weitgehend übereinstimmenden Urteil der Analysten aber auch ohne den Konflikt in der Nachbarschaft nicht hergeben. Zwar wurden die meisten Experten von der aktuellen KSH-Zahl und knapp vier Prozent Wachstum überrascht, die deshalb nun für das Gesamtjahr sehr geschlossen auf einen ungarischen BIP-Zuwachs oberhalb von 3 Prozent tippen. Die positive Beurteilung der Aussichten durch das Volkswirtschaftsressort teilen aber längst nicht alle.
Automobilindustrie lebt Optimismus vor
Auf der Habenseite steht eine Automobilindustrie, die Begeisterung vorlebt und mit ihrem Optimismus die gesamte ungarische Volkswirtschaft mitreißen könnte. Audi, Mercedes & Co. legten im I. Halbjahr um ungefähr ein Viertel zu; die dritte Schicht in Kecskemét und Győr sowie die anlaufende Verdopplung der Kapazitäten in der Motorenfertigung von Opel in Szentgotthárd sind darin noch nicht enthalten. Enorme Kapazitätsausweitungen verzeichnen neben zahlreichen Zulieferern der Automobilindustrie aber auch die Gummi- und die Chemieindustrie. Insgesamt stieg die Industrieproduktion um 11 Prozent. Doppelt so schnell legte das Baugewerbe zu, allerdings weitgehend getragen von staatlichen Investitionen in Infrastruktur und Stadien. Die Landwirtschaft könnte nach einem starken Plus im Vorjahr eine weitere gute Ernte einfahren und somit das positive Vorzeichen der Wachstumsdaten stärken. Für eine positive Überraschung dürfte zudem der Dienstleistungssektor gesorgt haben – auch ohne detaillierte Angaben spekulierte selbst das Volkswirtschaftsministerium etwas verdutzt auf einen Aufschwung in jenem Sektor, den die Regierung so stiefmütterlich behandelt.
Wo die Handelsbanken keine Kredite vergeben, geht das auch anders: Die Ungarische Nationalbank hat ihnen nach eigenen Angaben im Rahmen ihres Kreditprogramms für Wachstum bislang 300 Mrd. Forint zukommen lassen. Die durch die Regierung mit allen Mitteln forcierte Bereitstellung von EU-Fördermitteln pumpte zuletzt 150 Mrd. Forint in die Wirtschaft – auf Monatsebene! Im Sommer verebbte diese Quelle, doch nach vier Monaten des Durstens stand der August wieder im Zeichen von Erfolgsmeldungen der Ministerien. Dieser Geldstrom von jährlich im Durchschnitt 1.000-1.200 Mrd. Forint wird allmählich versiegen, auch wenn Auszahlungen für den Haushaltszyklus 2007-13 offiziell noch bis Ende kommenden Jahres getätigt werden können. Bis das soweit ist, sollten wir die ungarischen Wachstumszahlen aber noch genießen.