„Nur ganz wenige wissen heute noch, wie es ist, keine Freiheit zu haben“, konstatierte die ungarische Staatssekretärin Monika Balatoni am vorvergangenen Montag. Doch es ist noch gar nicht so lange her, da verlief durch die Mitte Europas eine Grenze, die auseinanderriss, was organisch zusammengehörte und Europa in einen freien, demokratischen Westen und einen Ostblock teilte, der seine Bürger mit Schießbefehl und Landminen vom Verlassen des sozialistischen Paradieses abhielt. Im August 1989 kam es in Sopron zu einer symbolischen Grenzöffnung zwischen Österreich und Ungarn, die mehr als 600 DDR-Bürger nutzten, um über die Grenze zu flüchten. Zum 25. Mal wurde deshalb zwischen dem 17. und 19. August eben hier die Freiheit eines vereinigten Europas gefeiert.
Zahlreiche namhafte Persönlichkeiten aus Deutschland und Ungarn, darunter Vertreter der konservativen Parteien beider Länder, fanden sich vorvergangene Woche in Sopron zu einer internationalen Konferenz ein. Die Veranstaltung organisierte die Konrad-Adenauer-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem József Antall Wissenszentrum, der Stiftung für ein Bürgerliches Ungarn, der Stiftung Paneuropäisches Picknick ´89 und der Stadt Sopron. Anlass bot das Jubiläum eines Ereignisses, das das Schicksal Ungarns und Deutschlands untrennbar miteinander verknüpfte: Das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989. Dass es sich darüber hinaus um einen wegweisenden Moment für ganz Europa handelte, habe man erst rückblickend erkannt, so László Magas, Präsident der Stiftung Paneuropäisches Picknick ´89.
25 Jahre später: Was wirklich geschah
Seine Stiftung widmet sich der Aufgabe, das Andenken und die historische Treue der damaligen Ereignisse zu wahren. Dies sei nicht immer einfach, denn im Laufe der Jahre boten verschiedene Akteure ihre eigene Interpretation an. „Wir waren so wenige und sind so viele geworden“, brachte es Magas während der Soproner Konferenz überspitzt auf den Punkt. Die Idee des Grenzpicknicks stammte aus den Reihen Debrecener Oppositioneller, die dem Demokratischen Forum nahestanden, wurde jedoch unter der Schirmherrschaft der Paneuropa-Union organisiert. Geplant war eigentlich eine Grenzöffnung rein symbolischen Charakters – an eine Massenflucht von DDR-Bürgern war nicht zu denken. Doch als für genau drei Stunden, zwischen 15 und 18 Uhr, das Tor zur Freiheit geöffnet wurde, nutzten mehr als 600 Menschen ihre Chance. Viele Details, die in diesen politisch stürmischen Zeiten zum friedlichen Verlauf des Picknicks und dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs führten, bleiben wahrscheinlich für immer im Dunkeln oder könnten nur durch glückliche Umstände erklärt werden. Dies betonte auch László Nagy, Mitorganisator des Picknicks: „Es hing so viel vom Zufall ab. Hätten wir zum Beispiel keine deutschen Flyer verteilt, wäre das Ganze vielleicht nie passiert.“ Und auch der damalige Grenzwachoffizier, Árpád Bella, erinnerte sich während seines Vortrags, dass es durchaus die Möglichkeit gegeben hätte, dass der friedliche Grenzübertritt in eine gewalttätige Auseinandersetzung mündet, denn „es gab keine konkreten Informationen und viele Anweisungen waren widersprüchlich.“ Seiner Besonnenheit ist zu verdanken, dass die Ereignisse nicht eskalierten.
Warum gerade Ungarn?
1989 waren die außen- und innenpolitischen Umstände in Ungarn günstig, um die neuen Freiheiten der Ostblockstaaten gegenüber einem sich auf dem Reformweg befindlichen Russland unter Gorbatschow auszutesten. Bereits im Mai hatte Ungarn Minen sowie Selbstschussanlagen und im Juni die Grenzzäune zu Österreich abgebaut. Medienwirksam durchschnitten die Außenminister beider Länder, Gyula Horn und Alois Mock, selbst einige Stück Stacheldraht. Ungarn hatte seinem Unwillen Ausdruck verliehen, seine eigenen oder Bürger andere Nationen weiter wie Gefangene zu behandeln. Und in Österreich forderte ein Kaisersohn, Otto von Habsburg, ein grenzenloses Europa, dem mit der Gründung der Paneuropa-Union, deren Unterstützer auf ungarischer Seite Imre Pozsgay war, Nachdruck verliehen wurde. Um allerdings einer großen geopolitischen Provokation aus dem Weg zu gehen, wie Gábor Andrássy, der heutige Präsident der Paneuropa-Union Ungarn, schilderte, hätten sich beide von den Ereignissen selbst ferngehalten. Dies war nur einer von vielen strategischen Zügen, die notwendig waren, um die fragile Situation vor einer gewaltsamen Eskalation zu bewahren. Doch neben den politischen Gegebenheiten sieht Publizist und Autor Gyula Kurucz auch die ungarische Empfindsamkeit als treibende Kraft hinter dem Durchbruch in die Freiheit, wie er in Sopron erklärte: „Die Ungarn verstanden nicht nur, was es heißt, durch willkürliche Grenzen von Teilen des eigenen Volkes abgeschnitten zu sein“, ihnen liege auch der Freiheitswille im Blut, gemeinsam mit einer Neigung „mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.“
Wo stehen Freiheit und Demokratie heute?
„Kurz nach der Wende herrschte große Euphorie über ein freies Europa“, so Ellen Bos, die an der Budapester Andrássy Universität Vergleichende Politikwissenschaften lehrt. Diese sei jedoch in den letzten Jahren verebbt. Laut Bos sei sogar nach Maßstäben des Freedom-House-Index in den letzten acht Jahren ein Rückgang der Freiheit in Europa zu verzeichnen. Plötzlich scheine auch die Demokratie nicht mehr alternativlos, da autoritäre Staaten wie die Türkei sich als Erfolgsmodell präsentierten.
Doch der Überdruss an der Demokratie betrifft nicht nur die junge Generation, die keine Diktatur mehr kennen, sondern auch die Generation, die sich ihre Freiheit hart erkämpfen musste. Allen voran die Ungarn, so scheint es. Premier Viktor Orbán, der ´89 als glühender Demokrat und Liberaler die politische Bühne betrat, fordert 25 Jahre später die Abwendung von der liberalen Demokratie. Mit seiner Rede von Tusnádfürdő, in der er auch anregte, sich am Erfolgsmodell von autoritären Staaten wie China und der Türkei zu orientieren, sorgte er nicht nur in den Reihen der ungarischen Opposition, aber auch der europäischen Öffentlichkeit für Raunen. In Deutschland hatte Michael Roth in einem Interview mit Dem Tagesspiegel offen Kritik an der Entwicklung der ungarischen Regierung geübt: „Wer die freiheitliche Demokratie ablehnt und autoritäre Staaten als Modell preist, verabschiedet sich von fundamentalen Grundsätzen der Europäischen Union.“ So weit gingen die Vertreter Deutschlands auf der Konferenz in Sopron nicht. Trotzdem schien die Warnung Hendrik Hansens, Prorektor der Andrássy Universität Budapest, sich nicht von autoritären Systemen verlocken zu lassen, besonders in Richtung der ungarischen Politik ausgesprochen zu sein. Dem schloss sich auch Arnold Vaatz, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, an.
Die in Europa oft kritisierten Maßnahmen Ungarns verteidigte jedoch József Szájer, der für den Fidesz im Europäischen Parlament vertreten ist. Nach einer Krise könne man nicht genauso weitermachen wie davor. Ungarn habe alle Fakten auf den Tisch legen und eben auch unbeliebte Entscheidungen treffen müssen. Davon könne Europa nur profitieren, da Ungarn neue Erfahrungswerte liefere. Auch der Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, warb in seiner Ansprache um Verständnis und Unterstützung für Ungarns „neuen Weg“.
Brauchen wir ein erneutes Picknick?
Doch wie können bei so unterschiedlichen Herangehensweisen Freiheit und Demokratie in ganz Europa aufrechterhalten werden? An Beispielen wie der Krise in der Ukraine ist zu sehen, wie zerbrechlich beide Ideale, aber auch der Frieden in Europa sind. József Szájer sieht einen Teil des Problems in strukturellen Schwierigkeiten der EU begründet und diagnostizierte auf der Soproner Konferenz: „Europa hat einen Platten und wir sind ratlos, wie es weitergehen soll.“ Daher verschrieb Szájer der EU, sich einem gründlichen Demokratiecheck zu unterziehen. Denn durch zu lange Entscheidungswege, ungeklärte Kompetenzen und ein übertriebenes Kompromisssystem mache sie sich handlungsunfähig. Ein weiteres Problem sei, dass die bürgerlich-demokratische Unterstützung zu versickern scheine. Auch Michael Stübgen, Vorsitzender der Deutsch-Ungarischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestags, stellte fest: „Heute wertschätzen die Menschen die Freiheit nicht mehr so hoch wie zu Zeiten des Paneuropäischen Picknicks.“
Da drängt sich die Frage auf, ob eine so mutige und weitreichende Demonstration des Freiheitswillens in Europa wie vor 25 Jahren in Sopron heute noch denkbar wäre. Eines ist klar: Sternstunden der Menschlichkeit durch politische Akteure, Grenzbeamte und einfache Bürger, wie sie im Sommer ´89 vollbracht wurden, müssen Teil unserer Erinnerungskultur bleiben. Doch wie Soprons Bürgermeister Tamás Fodor in seinem Konferenzbeitrag warnte, haben „viele Zeitzeugen uns schon für immer verlassen.“ László Magas betonte daher die Dringlichkeit, auch die nächste Generation für das Thema zu interessieren, um das geistige Erbe zu erhalten. Dem Gedanken des Picknicks könnten wir aber nur dann treu bleiben, so Gergely Gulyás, Vizepräsident der Ungarischen Nationalversammlung, wenn wir die Freiheit, die es uns gegeben hat, immer und immer wieder umsetzten. Dies gelte für Deutschland und Ungarn, ebenso wie für ganz Paneuropa.
Den Ungarn von damals, das machten alle deutschen und österreichischen Sprecher in Sopron jedenfalls klar, gebührt für den Mut, den sie 1989 bewiesen haben und mit dem ein Stein ins Rollen kam, der nur wenige Wochen später die Mauer zu Fall brachte, ewiger Dank.