Das Interview fand an einem heißen Julitag auf der lauschigen Terrasse des Sommerhauses der Némeths am „Ungarischen Meer”, dem Balaton, statt. Im Hintergrund der türkisblau schimmernde Plattensee und die bukolische Hügellandschaft der Halbinsel Tihany, auf dem Tisch ein frischgebackener Topfenkuchen mit der dazu passenden hausgemachten Pfirsichmarmelade der Frau des Gastgebers, daneben ein Krug Cabernet Sauvignon, der aus dem Weingut Hudák von „nebenan” stammt. Ideale Rahmenbedingungen also für ein anregendes Gespräch.
Herr Németh, woher kam der erste Schub, der letztlich zur Grenzöffnung für die DDR-Flüchtlinge am 11. September 1989 führte?
Etwas ironisch gesprochen kam der erste Schub vom rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu. Die Sache war so: Ceausescu setzte in Siebenbürgen (das großteils von Angehörigen der ungarischen Minderheit in Rumänien bewohnt wird; Anm.) Ende der 1980er Jahre ein sogenanntes Modernisierungsprogramm ins Werk, das darauf abzielte, die Dörfer dem Erdboden gleichzumachen und die Menschen stattdessen in realsozialistische Plattenbauten zu pferchen. Als Folge dieses irren Modernisierungsprogramms flohen unzählige Ungarnrumänen nach Ungarn. Die Flüchtlinge wurden in drei Flüchtlingslagern untergebracht, das bekannteste war in Nagyatád (Südwestungarn; Anm.). Das Problem lag nur darin, dass es damals ein Abkommen zwischen Ungarn und Rumänien gab, welches vorschrieb, dass die Staatsbürger der beiden Staaten sich maximal 30 Tage im jeweils anderen Land aufhalten durften. Bei Übertritt dieser Zeitspanne waren sie umgehend abzuschieben. Ungarn hatte Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit allen Bruderstaaten des Ostblocks solche bilateralen Abkommen unterzeichnet, mit der DDR beispielsweise im Jahr 1969. Ceausescu und Rumänien übten auf uns denn auch großen diplomatischen Druck aus, das zwischenstaatliche Abkommen einzuhalten und die Flüchtlinge aus Rumänien des Landes zu verweisen.
Was tun?
Genau, was tun? Noch dazu wurde auch aus der eigenen Bevölkerung Unmut über die Flüchtlinge aus Rumänien geäußert. Meine Mutter sagte mir damals, dass in meiner Heimatgemeinde Monok (Nordostungarn; Anm.) die Menschen stinksauer seien, weil die Regierung die „Rumänen” füttert, während die ungarische Wirtschaft in einer tiefen Krise steckt und die Gesundheitsversorgung des Landes im Argen liegt. Trotz dieses Drucks von beiden Seiten waren wir entschlossen, das Problem der Flüchtlinge aus Rumänien zu lösen. Und wir fanden schließlich auch eine Lösung! Ungarn war Ende der 1980er Jahre Mitglied der UNO, ebenso wie Rumänien. Im Rahmen der UNO gibt es die sogenannte Genfer Konvention zur Regelung des Status von Flüchtlingen. Allerdings war die Konvention bis dahin von keinem Land des Ostblocks unterzeichnet worden. Was taten wir? Wir unterschrieben sie kurzerhand. Dadurch konnten wir das bilaterale Abkommen mit Rumänien elegant umgehen. Vom internationalen Recht her ist es nämlich so, dass ein überstaatliches Abkommen, in diesem Fall die Genfer Konvention der UNO, über zwischenstaatlichen Abkommen steht.
Und dies kam dann später auch den ostdeutschen Flüchtlingen zugute, nicht wahr?
Richtig.
Sprechen wir nun vom Prozess der Grenzöffnung. Ist es wahr, dass der Eiserne Vorhang abgebaut wurde, weil in Ungarn wegen der hohen Verschuldung des Landes die Staatskasse leer war und es schlicht keine Mittel mehr gab, das Signalsystem entlang der Grenze aufrechtzuerhalten?
So war es. Ich möchte aber insgesamt drei Gründe nennen, die zum Abbau des Eisernen Vorhangs führten. Erstens: Das Land stand tatsächlich am Rande der Pleite. Im Mai 1989 musste der damalige Finanzminister László Békesi ein Notbudget einreichen, weil die Lage so prekär war. Zweitens: Ich erachtete es Ende des 20. Jahrhunderts schlichtweg für anachronistisch, den Eisernen Vorhang aufrechtzuerhalten. Es gab ja schon andere, modernere Methoden, um die Grenzen zu sichern. Schließlich gab es die gemeinsame österreichisch-ungarische Bewerbung für die Weltausstellung 1995. Wir dachten uns: Was würden die vielen ausländischen Besucher der Expo wohl denken, wenn sie von Wien nach Budapest reisen und an der Grenze den furchterregenden Stacheldraht sehen. Die Japaner würden vermutlich gleich knipsen und diese Bilder dann mit nach Hause nehmen. Beim Abbau des Eisernen Vorhangs spielten also sowohl wirtschaftliche als auch Image-Erwägungen ein Rolle.
Wer war der erste ausländische Politiker, der von Ihrer Absicht erfuhr, den Eisernen Vorhang abzubauen, wohl Michail Gorbatschow?
Nein, es war der damalige österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky. Nachdem ich Ende November 1988 Ministerpräsident geworden war, trat ich meine erste Dienstreise nicht nach Moskau an, wie es bis dahin üblich gewesen war, sondern nach Österreich. Wir trafen uns mit Vranitzky in Rust und Nagycenk (ungarischer Grenzort; Anm.). Und bei diesem Treffen teilte ich ihm mit, dass wir die Grenzanlagen zu Österreich abbauen werden.
Und Sie reisten tatsächlich erst danach zu Michail Gorbatschow nach Moskau?
Ja, so war es. Ich reiste damals mit einem Fünf-Punkte-Programm nach Moskau (5. März 1989; Anm.), darunter die Forderung eines Abzugs der Sowjettruppen mitsamt dem Abtransport der sowjetischen Waffen aus Ungarn, die Ankündigung des Abbaus des Eisernen Vorhangs, der Einführung eines Mehrparteiensystems und der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu Israel, Südkorea, Südafrika, Chile und dem Vatikan. Ich versuchte Michail deutlich zu machen (Németh pflegt bis heute Kontakt zu Gorbatschow; Anm.) dass die rund 80.000 sowjetischen Soldaten nicht mehr lange tragbar sein würden, sollte in Ungarn ein Mehrparteiensystem entstehen.
Wie reagierte Gorbatschow darauf?
Er versicherte mir, dass die schändlichen Ereignisse von 1956 sich nicht wiederholen würden. (Damals marschierten sowjetische Truppen in Ungarn ein, um den ungarischen Volksaufstand und die Demokratiebestrebungen des Landes blutig niederzuschlagen; Anm.)
Was sagte er zum beabsichtigten Abbau des Eisernen Vorhangs?
„Das ist Deine Entscheidung und Verantwortung, Miklós. Mir ist es egal.” Wie gesagt, es ging damals darum, die Sicherung der Westgrenze technisch anders zu lösen.
Gorbatschow legte Ihnen demnach keine Steine in den Weg.
Nein. Es war also großartig, wie Gorbatschow reagierte, aber! Eine Garantie gab es natürlich nicht. Es war nämlich keineswegs auszuschließen, dass die kommunistischen Hardliner in Moskau Gorbatschow aus dem Weg räumen würden. Aus diesem Grund ließen wir einige Testballons hochsteigen, um zu sehen, wie Moskau auf unsere Schritte reagiert. Als Erstes trug ich also dem damaligen ungarischen Innenminister István Horváth auf, den Eisernen Vorhang bei der Grenzortschaft Rajka (Nordwestungarn; Anm.) abzutragen. Am 27. März 1989 wurde der Abbau der Grenzanlagen begonnen. Nach nur zwei Wochen war bereits ein Grenzabschnitt von dreieinhalb Kilometern Länge freigelegt. Wir schielten nun gespannt nach Moskau. Doch nichts, keine Reaktion! Also ließen wir den nächsten Testballon steigen. Am 2. Mai 1989 hielt der stellvertretende Befehlshaber der ungarischen Grenzwache, Balázs Nováky, eine internationale Pressekonferenz, bei der er ankündigte, dass die Sicherung der Westgrenze mit anderen Methoden bewerkstelligt werde, also nicht mehr mit Stacheldraht und Minenfeldern. Und wieder gab es keinen Protest aus Moskau! Am 2. Mai 1989 waren bereits 60 Prozent des Eisernen Vorhangs abgetragen! Am 17. Mai 1989 ließen wir einen weiteren Testballon steigen. In der damaligen halboffiziellen Zeitung der Regierung, Magyar Hírlap (das Blatt ist heute rechtskonservativ orientiert; Anm.), erschien ein seitenlanger Artikel darüber, dass der Eiserne Vorhang demontiert wird. Keine Frage, dass der Artikel auch in der sowjetischen Botschaft gelesen wurde. Doch gab es wieder keine Reaktion von Stukalin! (Boris Iwanovitsch Stukalin war von 1985 bis 1990 sowjetischer Botschafter in Ungarn; Anm.)
Was hatte es mit der symbolischen Durchschneidung des Grenzzauns durch die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, eigentlich auf sich?
Mitte Juni 1989 eröffnete mir Horn Folgendes: „Miki, Mock hat mich gerade mit der Idee angerufen, den Stacheldraht gemeinsam zu durchschneiden!” „Wie toll!”, sagte ich, „doch gibt es dabei nur ein Problem: Es gibt keinen Stacheldraht mehr.” Der Eiserne Vorhang war zu jenem Zeitpunkt bereits gänzlich abgebaut. Uns kam aber prompt eine Idee: Wir ließen den Eisernen Vorhang auf einer Länge von 30 Metern kurzerhand wieder aufbauen. Die Fotos von der Durchschneidung gingen um die ganze Welt. Und wieder gab es keinen Anruf aus Moskau! Allerdings verdichteten sich die Nachrichten, dass Gorbatschow durch die Falken in Moskau immer mehr in Bedrängnis gerät. Wir fingen also an zu beten. Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn wieder ein Hardliner wie Breschnew (Leonid Iljitsch Breschnew war von 1964 bis 1982 Staatschef der Sowjetunion; Anm.) in Moskau die Macht erlangt hätte.
In diese Zeit fiel auch das Paneuropäische Picknick, nicht wahr?
Ja, die Idee ging von Otto von Habsburg und der MDF-Organisation in Debrecen aus (das Ungarische Demokratenforum [MDF] bildete die erste demokratisch gewählte Regierung in Ungarn; Anm.). Neben Otto von Habsburg konnte Imre Pozsgay (Mitglied des Zentralkomitees; Anm.) als Schirmherr des Picknicks gewonnen werden. Allerdings war letztlich keiner der beiden Personen beim Picknick anwesend. Die Idee hinter dem Picknick war, die österreichisch-ungarische Schwagerschaft (die Österreicher werden in Ungarn wegen der gemeinsamen k.u.k.-Vergangenheit als „Schwager” bezeichnet; Anm.) mittels einer dreistündigen Grenzöffnung bei Sopronpuszta zu stärken. Während es auf österreichischer Seite Schnitzel gab, konnte auf ungarischer Seite Gulasch gegessen werden. Ich wies damals den befehlshabenden Offizier des Grenzschutzes an, auch mögliche DDR-Flüchtlinge nach Österreich durchzulassen und sie bei ihrer Flucht zu fotografieren. Auch diese Bilder gingen durch die Welt. Und wieder gab es keine Reaktion aus Moskau!
Es ist diesbezüglich auch häufig die Meinung zu hören, dass die ungarischen Grenzschutzbeamten am 19. August gleichsam überrumpelt worden seien und gar nicht gewusst hätten, was zu tun sei. Demnach hätten sie auch ohne weiteres von ihren Waffen Gebrauch machen können.
Falsch. Ab Mitte der 1980er Jahre durften die Angehörigen des Grenzschutzes nur noch dann von ihren Waffen Gebrauch machen, wenn sie angegriffen wurden. Hinzu kommt, dass ich den damaligen Landespolizeipräsidenten András Túrós anwies, alle Grenzschutzbeamten in einem Umkreis von fünf Kilometern in die Kasernen abzuziehen. Der Grenzschutz unterstand damals der Landespolizeidirektion. Es wird immer wieder auch fälschlich behauptet, dass Árpád Bella seinerzeit das Kommando über die Grenzschutzbeamten bei Sopronpuszta innehatte. Nein, das Kommando hatte damals Mihály Gulyás inne, der aus Budapest eigens zum Picknick entsandt wurde.
Haben Sie eine Ahnung davon, wie die DDR-Flüchtlinge von dem Picknick Wind bekamen?
Sowohl in Budapest als auch am Balaton, wo sich damals ebenfalls viele DDR-Bürger aufhielten, kursierten vor dem Picknick Flugblätter, auf denen auf einer Landkarte genau eingezeichnet worden war, wie Sopronpuszta zu erreichen sei. Ich fragte später Pater Imre Kozma, ob er Urheber der Flugblätter gewesen sei. Doch er verneinte. Wahrscheinlich verbreitete also der westdeutsche Geheimdienst die Flugblätter.
Kehren wir auf die Ebene der hohen Politik zurück: Ende August folgte schließlich das Geheimtreffen mit dem deutschen Kanzler Helmut Kohl und seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Schloss Gymnich bei Bonn.
Das Treffen fand am 25. August statt. Ich reiste damals mit Außenminister Gyula Horn nach Gymnich. Dort eröffnete ich Kohl, dass wir für die mehr als hunderttausend DDR-Flüchtlinge in Ungarn im September die Grenze nach Österreich öffnen wollen. Daraufhin kamen diesem Koloss von Mann die Tränen. Er fragte mich mindestens drei Mal, was Gorbatschow dazu sage. „Nichts”, so meine Antwort. Und er fragte mich auch, welche Gegenleistung wir erwarten. Darauf antwortete ich, dass wir keine Menschen verkaufen (eine Anspielung auf den rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu, der für die auswanderungswilligen deutschstämmigen Rumänen von Deutschland ein Kopfgeld verlangte; Anm.) und dies aus moralischen und humanitären Gründen tun. Zwei Wochen später, in der Nacht vom 10. auf den 11. September, also Punkt Mitternacht, erfolgte dann tatsächlich die Grenzöffnung. Diese wurde von Horn im ungarischen Staatsfernsehen in der beliebten Sendung „A hét” (Die Woche) zur Hauptsendezeit abends um sieben angekündigt. Ich möchte hierbei noch ein interessantes Detail am Rande hinzufügen: Die Ankündigung der Grenzöffnung rettete auch Helmut Kohl den Kragen. Gegen Kohl gab es in der CDU seinerzeit einen Putschversuch, der unter anderen von Rita Süssmuth und Lothar Späth ausging. Der CDU-Parteitag, auf dem Kohl hätte abgesägt werden sollen, fand ausgerechnet am 10. September statt. Unmittelbar nachdem Horn die Grenzöffnung im ungarischen Fernsehen angekündigt hatte, trat auch Kohl mit der Nachricht vor die deutsche Öffentlichkeit, dass die ungarisch-österreichische Grenze ab Mitternacht für die DDR-Flüchtlinge geöffnet sei. Mit diesem Auftritt vermochte er seine politischen Gegner innerhalb der CDU mit einem Schlag zu entwaffnen.
Gyula Horn soll angeblich gesagt haben, dass er es war, der Kohl und Genscher die Grenzöffnung ankündigte.
Das ist Unfug. Lesen Sie doch in den Memoiren von Helmut Kohl nach. Gyula war bekannt dafür, sich in den Vordergrund zu drängen. (Horn starb am 19. Juni 2013; Anm.)
Was würden Sie anders machen, könnten Sie das Rad der Zeit zurückdrehen?
Ich würde mich wahrscheinlich selbst vor die Kameras stellen, um gemeinsam mit Vranitzky den Grenzzaun zu durchtrennen.
Miklós Németh, 66, wurde Ende November 1988 mit nur vierzig Jahren Ministerpräsident der Volksrepublik Ungarn. Während seiner Amtszeit wurden die ersten demokratischen Wahlen in Ungarn (1990) vorbereitet. Nach seinem Abtritt als Regierungschef (Ende Mai 1990) wurde er Vizepräsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in London. 2000 kehrte er nach Ungarn zurück. 2007 wurde Németh vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zum Leiter des neuen Ausschusses ernannt, der die Aktivitäten der Nordkoreanischen Behörden beobachtet. In dieser Funktion reiste er mehrfach in die UNO-Zentrale nach New York. Heute widmet er sich vor allem seinen Enkeln (Németh hat zwei Söhne, die in London und Wien leben) und seinem riesigen Garten am Balaton, wo rund 80 Mandelbäume stehen. Für seine Verdienste um die Zusammenführung Europas erhielt Németh dieses Jahr den Point-Alpha-Preis in Deutschland.
Ein toller Beitrag