Das Haus von Györgyi Komándi-Varga und István Varga im Budapester Bezirk Zugliget war schon immer etwas Besonderes. Insgesamt zehn Kinder und mehrere Bernhardiner wuchsen hier auf. Das von Architektin Györgyi und Elektroingenieur István selbst entworfene und gebaute Haus steht bis heute jedem offen. „Wir sind eine ungewöhnliche Familie; Regeln haben uns nie interessiert“, gibt die sechzigjährige Györgyi offen zu.
Auch deshalb war es für sie und ihren Mann im Sommer 1989 geradezu selbstverständlich, für mehrere Wochen insgesamt neun DDR-Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Damit gehören beide zu den tausenden freiwilligen Helfern auf ungarischer Seite, die halfen, die Wartezeit der ostdeutschen Flüchtlinge einigermaßen erträglich zu gestalten. Mit ihrer Selbstlosigkeit und ihrer positiven Einstellung gegenüber den Flüchtlingen trugen die vielen hilfsbereiten Ungarn letztlich mit dazu bei, dass die politischen Entscheidungsträger in Ruhe und ohne zusätzlichen Druck an einer vernünftigen Lösung arbeiten konnten, die dann ab dem 11. September, dem Tag der allgemeinen Grenzöffnung, umgesetzt wurde.
Sie wohnen unweit der Zugligeter Pfarrkirche „Zur Heiligen Familie“, um die herum im Sommer 1989 ein großes Flüchtlingslager bestand. Was wussten Sie damals über die Lebensumstände der in Ungarn gestrandeten DDR-Flüchtlinge?
Györgyi: Natürlich hatten wir schon von den Flüchtlingen gehört; man wusste auch, dass es viele waren. Überall in der Stadt, am Moszkva tér zum Beispiel, waren Aushänge angebracht, in denen der Weg zum Maltester Caritas Hilfsdienst beschrieben oder Angehörige von Flüchtlingen gesucht wurden. Laternen, Häuserwände, Bänke – alles war voll. Aber erst, als ich einmal mit den Kindern auf dem Weg zum Spielplatz unweit der Kirche war, sah ich das Ganze mit eigenen Augen. Die Straße war voller Menschen und Autos, im Garten der Kirche standen viele Zelte. Die Deutschen mussten manchmal zwei Stunden anstehen, um auf Toilette gehen zu können – auch die Frauen, die ihre Babys wickeln oder zum Wasserhahn gelangen wollten. Ich sage nicht, dass es nur Gedränge im Garten der Kirche gab. Es war schon sehr gut organisiert und man versuchte, den Flüchtlingen die Zeit vor Ort möglichst angenehm zu gestalten. Mahlzeiten, Spiele, um die Kinder zu beschäftigen, Gesundheitsversorgung – alles war vorhanden. Aber es waren einfach so viele Menschen, da geht es automatisch sehr beengt zu.
War es dann Ihre Entscheidung, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen?
Györgyi: Ja, ich bin dann nach dem Spielplatz-Besuch nach Hause gegangen und habe zu István gesagt: Was wäre, wenn? Und er meinte, klar! Nicht weil er immer alles abnickt, was ich sage, sondern weil wir sehr gleich denken. Wir dachten uns: Hier ist das Haus, wir haben noch Platz, es gibt eine ordentliche Toilette, die Kinder können im Garten spielen. Allerdings wurde an unserem Haus zum damaligen Zeitpunkt noch gebaut, das heißt, es war alles nur halbfertig. Außerdem hatten wir damals bereits sechs Kinder, fünf Jungs und ein Mädchen. Aufgrund der vielen Kinder und dreier Hunde und da einige Zimmer noch gar nicht fertig waren, beschlossen wir mit István: Ok, wir können sechs bis acht, maximal zehn Menschen bei uns aufnehmen.
Sind Sie dann einfach zur Kirche spaziert und haben Ihre Unterkunft angeboten?
Györgyi: Nicht ganz. Pfarrer Kozma war damals der zentrale Ansprechpartner im Flüchtlingslager der Kirche. Auf ihn bin ich also mit unserem Angebot zugegangen. Ich bat ihn jedoch, solche Leute zu schicken, die für die Umstände hier bei uns, also das halbfertige Haus und die vielen Kinder, zu haben sind. Lockere Menschen, vielleicht junge Familien oder Jugendliche. Nun ja, als ich nach dem Besuch beim Pfarrer wieder nach Hause kam, standen sie schon vor der Tür. Offenbar hatte sich die Nachricht, dass jemand Flüchtlinge bei sich aufnehmen würde, fix verbreitet.
Wer erwartete Sie damals vor Ihrer Haustür?
Györgyi: Zunächst war es nur ein Pärchen um die 30, 35 mit einem zweijährigen Sohn. Sie fuhren einen Wartburg oder irgendein weißes Auto (lacht), so etwas weiß István besser. Ein Zelt hatten sie auch dabei, sprich, sie waren ganz gut ausgestattet. Ist ja auch verständlich mit so einem kleinen Kind. Es gab keinerlei Probleme mit ihnen, sie waren ordentlich und haben uns später einen ganz lieben Dankesbrief geschrieben. Aber man kann nicht sagen, dass sie besonders kommunikativ oder zugänglich waren, vor allem der Mann. Der Frau kam ich schon etwas näher, aber auch nur, weil wir die Kinder zusammen wickelten. Ja, und dann kamen noch drei Jungs Anfang 20 mit Rucksäcken. Mit ihnen verstanden wir uns wunderbar.
Was haben Sie über die persönlichen Hintergründe der Flüchtlinge erfahren?
Györgyi: Von der dreiköpfigen Familie erfuhren wir nur wenig, im Gegensatz zu den Jungs. Sie stammten aus Halle, zwei von ihnen waren Brüder. Sie waren alle gut miteinander befreundet und hatten das Studium gemeinsam angefangen. Tja, und irgendwann besprachen sie eben mit ihren Eltern, dass sie weggehen wollten aus der DDR. Ursprünglich waren sie eine große Gruppe, zehn oder zwölf Mädchen und Jungen, die zusammen die Flucht geplant hatten. Die Umstände weiß ich auch nicht mehr genau, auf jeden Fall aber zerfiel die Gruppe auf der Flucht. Einer ihrer Freunde musste eine Strecke beispielsweise auf dem Unterboden eines Zuges verbringen, indem er sich wortwörtlich daran festklammerte, wie im Western. Ein anderer versteckte sich im Klo, wurde dabei jedoch geschnappt und abgeschoben. Seine Freunde hatten erzählt, dass das Ganze seine Spuren an ihm hinterlassen habe, denn nach seiner Abschiebung wurde der Junge für einige Tage ins Gefängnis gesteckt, wo man immer wieder für lange Zeit Wasser auf ihn tropfen ließ. Das hat mich schockiert.
Und der Rest der Gruppe schaffte es dann gar nicht mehr nach Ungarn?
Györgyi: Drei Mädchen kamen noch, einige Tage später. Eine davon war die Verlobte eines der Jungen. Damit sie unser Haus finden, haben wir draußen eine ungarische Flagge angebracht, die man schon vom Tal aus kommend sehen konnte. Außerdem hatten wir immer schon einen großen Haufen Bernhardiner (lacht). Wer sich unseren Familiennamen Varga nicht merken konnte, der wusste wenigstens, ach das sind die mit den Bernhardinern! Das war dann also die fidele sechsköpfige Gruppe. Und nun ja, die jungen Leute haben es richtig genossen!
Wo haben Sie die DDR-Flüchtlinge untergebracht?
Györgyi: Ursprünglich hatten wir gedacht, dass sie im Kellergeschoss des Hauses wohnen könnten, aber da es ein Bombenwetter war, entschieden sie sich, draußen im Garten zu zelten.
István: Den Jugendlichen hatten wir zwei große Zelte zur Verfügung gestellt.
Györgyi: Als sie fortwaren, konnte man im grünen Gras genau die Stellplätze der Zelte sehen: ein kleines braunes Viereck und ein großes braunes Viereck.
Das hört sich ja richtig nach entspanntem Zelturlaub an.
Györgyi: Ja, ein bisschen war es tatsächlich so. Die Jugendlichen spielten im Garten mit den Hunden, die Kinder tollten herum, man machte Ausflüge, ging Sessellift fahren und so weiter. Allerdings immer nur für einen halben Tag, denn es könnte ja Neuigkeiten geben. Die Deutschen gingen deshalb fast täglich hinunter zur Kirche, wo immer die aktuellen Nachrichten verlautbart wurden. Auch dort sah es manchmal so aus wie auf einem Festival, mit den ganzen im Gras sitzenden Leuten (lacht).
Wie verlief der Alltag?
Györgyi: Es war eigentlich ganz normal, wie es mit anderen Gästen auch gewesen wäre. Manchmal waren sie im Haus, manchmal im Garten, mal unterhielt man sich, mal war jeder für sich. Der Fernseher lief ohne Unterbrechung. Auch wenn es nur ungarisches Programm war, wollte man natürlich immer sofort das Neueste erfahren. Und dann hat man eben manchmal zusammen gegessen, manchmal gingen die Deutschen runter zur Kirche, um dort zu essen. Einmal habe ich Zwetschgenknödel gemacht; das sind bei uns mit all den Kindern schon mindestens 100 Stück. Die Deutschen konnten nicht glauben, dass wir für so ein großes Essen drei, vier Stunden am Kochen und Backen sind, das war für sie unvorstellbar (lacht). Wir haben dann kollektiv die Knödel geformt und sie danach auf der Terrasse verputzt. Als wir uns ein Jahr später nochmal mit der jungen Gruppe trafen, schwärmten sie immer noch von dem gemeinsamen Knödelessen.
Konnten Sie sich damals auf Deutsch mit Ihren Gästen unterhalten?
Györgyi: István ja!
István: Na ja, nur die Küchensprache. Aber es ging schon.
Györgyi: Ich habe mich mit Englisch durchgeschlagen. Aber manchmal kam es auch vor, dass man ein Wort auf Russisch sagte, wenn man es sonst in keiner Sprache wusste. Das war dann immer urkomisch.
Und dann kam irgendwann der 10. September 1989.
Györgyi: Genau. Ich weiß noch, dass es abends war, denn es war zur Zeit der Gutenachtgeschichten. Danach liefen die Nachrichten, wo sie durchsagten, dass die ungarisch-österreichische Grenze nun offiziell und legal geöffnet sei. Kurz zuvor sind die Jungs zum Abendessen in Richtung Kirche losgegangen, und das war dann total niedlich: István rannte ihnen so schnell er konnte hinterher und rief, kommt zurück! Natürlich tobten alle vor Freude. Und gleich am nächsten Tag begann man, die Ausreise der Flüchtlinge zu organisieren. Züge und vor allem Busse brachten die Menschen in Richtung Österreich. Familien mit Kleinkindern durften zuerst, junge Studenten wie unsere nette Gruppe wären zuletzt an der Reihe gewesen. Allerdings wusste ja niemand, wie lang die Grenzen offen bleiben würden, ob das überhaupt ein endgültiger Zustand ist. Was, wenn man ein, zwei Wochen warten muss und die Grenzen bis dahin wieder dicht sind? Die Jugendlichen hatten ja kein Geld. Also beschlossen wir, nicht mehr zu warten, sondern die Gruppe mit dem Auto nach Deutschland zu bringen.
Sie haben alle sechs außer Landes gebracht?
Györgyi: Ja, ganz raus bis zur deutschen Grenze, im geliehenen Minivan. Im Grunde bereiteten wir die Ausreise innerhalb eines Tages vor. Die Kinder übergaben wir meinen Eltern, und am 12. September ging es dann auch schon los. Das Pärchen mit dem Kleinkind machte sich zeitgleich mit seinem Auto auf. Alle im Minivan, besonders aber die Jungs, waren angespannt und fragten sich, ob alles gut gehen würde. Einer der jungen Männer hatte solche Angst, dass wir zwei Mal anhalten mussten, weil ihm ganz schlecht war. Ich habe mir, wie man das auch bei Kindern macht, allen möglichen Quatsch ausgedacht, um die Aufmerksamkeit abzulenken: essen, singen, „Schau mal, ein rotes Auto“. Und dann endlich kommen wir an der Grenze an, der österreichische Grenzbeamte war sehr höflich, und plötzlich fiel die Anspannung von allen ab. Wir haben dann erst einmal einen Sekt aufgemacht.
Wie weit sind Sie mit der Gruppe gefahren?
Györgyi: Bis nach Passau konnten wir sie nicht bringen, weil das ja schon etwas im Landesinneren ist und wir zwar einen gültigen Reisepass, aber kein Visum besaßen. Doch an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland stießen wir ganz zufällig auf ein Flüchtlingslager des Roten Kreuzes, wo wir die Jungs und Mädchen abliefern konnten. Beim Roten Kreuz waren alle total hin und weg davon, dass zwei blöde Ungarn aufbrechen, um ein halbes Dutzend DDR-Flüchtlinge hunderte Kilometer nach Deutschland zu fahren (lacht). Wir wurden dann mit viel Speis und Trank beschenkt, es war ja schon fast Mitternacht. Danach haben wir einige Kilometer von der Grenze entfernt im Wagen übernachtet, und als wir am Morgen aufwachten, atmeten wir tief durch und sagten uns, wow, das haben wir jetzt auch hinter uns.
Was würden Sie heute sagen, wieso haben Sie die Flüchtlinge bei sich aufgenommen?
Györgyi: Es waren, das sage ich vollkommen im Ernst, keine großartigen patriotischen, politischen Gefühle dabei oder der Wunsch, sich ins Weltgeschehen einzumischen. Ich dachte mir jetzt nicht, na, dann gehe ich jetzt zum Flüchtlingscamp und nehme ein paar arme Leute bei mir auf. Diese Art Pathos und Stolz spielten keine Rolle. Aber man hat schon gespürt, dass die Handlung etwas Erhebendes hat. Man hat gemerkt, dass sich da endlich etwas zum Positiven verändert, und das hat uns begeistert. Wie viele andere natürlich auch.
Wie entwickelte sich anschließend Ihr Kontakt mit den Deutschen?
Györgyi: Zu Silvester schrieben uns vier aus der Gruppe einen Brief aus Bonn, wo sie zu dem Zeitpunkt lebten. Sie hatten bereits Familie und Freunde in Halle besucht und freuten sich, wieder arbeiten und studieren zu können. Das Pärchen dagegen zog nach München, doch die Beziehung hielt nicht. Ein Jahr nach ihrer Ausreise besuchten wir die Jungs in Bonn in ihrer Wohnung, auch das Pärchen besuchten wir noch, und einmal zu Weihnachten kam die Gruppe sogar zu uns nach Budapest. Wir schrieben uns noch eine ganze Weile Postkarten; die nutzten die Reisefreiheit dann in vollen Zügen aus. Aber mit der Zeit hörte die Schreiberei auf. Wir wollten den Kontakt damals nicht forcieren. Wir wussten, dass alle die Wende und das Erlebte unterschiedlich aufgearbeitet hatten. Vielleicht wollten ja manche von ihnen alles vergessen. Nun möchten wir aber noch einmal einen Versuch wagen und Kontakt aufnehmen. Einer der Männer arbeitet bis heute als Musiker, sein Bruder ist Jurist und der Dritte ist als Unternehmer im eigenen Familienunternehmen in Halle tätig. Wir sind schon sehr aufgeregt, ob wohl eine Rückmeldung kommt.
Heute, nach 35 Ehe-Jahren, zehn Kindern und fünf Enkelkindern, leben Györgyi und István immer noch in ihrem Haus in Zugliget. In ihrem zehn-Personen-Haushalt leben momentan drei Generationen ihrer Familie zusammen. István ist bereits in Rente, während seine Frau nach wie vor als freischaffende Architektin arbeitet. Damals wie heute halten die beiden ihre Tür gern für Gäste offen. Am Haus wird weiterhin in regelmäßigen Abständen gewerkelt – aktuell wird die von István selbst gezimmerte Holzküche renoviert.