Durch den öffentlichkeitswirksamen Abbau der Grenzsicherungsanlagen in Richtung Österreich wurde Ungarn in den Sommermonaten 1989 zum Magnet für Tausende fluchtentschlossene DDR-Bürger. Sie warteten in Flüchtlingslagern und auf Camping-Plätzen sprungbereit auf ihre Chance. Einige vertrauten den Zeichen der Zeit und hofften auf eine allgemeine Grenzöffnung, andere wiederum nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand und versuchten sich auf eigene Faust über die grüne Grenze nach Österreich durchzuschlagen. Teils allein, teils in größeren Gruppen. Wenn es sein musste, dann gleich mehrfach. Bis es klappte. Dank des Filmproduzenten Robert Prokopp und drei weiteren Mitstreitern ist eine der größten Fluchten filmisch dokumentiert. Am 22. August 1989 hielt das Filmteam die konspirative Abfahrt von etwa 150 Ostdeutschen aus dem Budapester Flüchtlingslager Zugliget fest, begleitete einige Stunden später ihre Flucht über die grüne Grenze bei Sopron und konnte schließlich auf österreichischer Seite ihre ersten Minuten in Freiheit filmen.
Wie kam es zu den Aufnahmen?
Wir hatten damals eine Produktionsfirma in München. Mein Geschäftspartner Ferenc Tolvaly, ebenfalls ungarischer Abstammung, aber aus Siebenbürgen, war Filmregisseur. Er hatte ein Gespür für Filmthemen und einen ausgeprägten journalistischen Riecher. Wir haben in den Medien vom Paneuropäischen Picknick gehört und davon, dass am 19. August für kurze Zeit die Grenzen offen standen und viele DDR-Bürger flüchteten. Wir waren damals ziemlich reaktionsschnell, wir haben unsere Sachen gepackt und schon am nächsten Tag, es muss der 20. August gewesen sein, sind wir in Sopron angekommen.
Was passierte dann?
Von Sopron sind wir weiter zu einem Zeltlager im Budapester Stadtbezirk Kőbánya gefahren und haben dort versucht, mit DDR-Bürgern ins Gespräch zu kommen. Mit wenig Erfolg. Immer wieder hörten wir Aussagen wie: „Wir sind gar nicht hier“ oder „Wir kommen aus Bulgarien zurück und wollen hier nur übernachten“. Man wisse von nichts, man höre keine Nachrichten, lese keine Zeitung und untereinander würde man angeblich auch nicht über solche Dinge sprechen. Das war Wahnsinn, die Leute haben sich nicht getraut, offen zu sagen, warum sie da sind und was sie vorhaben. Gut, Mitte August konnten sie auch nicht einschätzten, ob ein Gespräch mit uns möglicherweise für sie oder ihre Angehörigen in der DDR ein böses Nachspiel haben könnte. Nur eine Frau, und so fängt unser Film an, hat sich mutig vor die Kamera gestellt und für uns einen längeren Monolog über die Freiheit und ihre Motive zur geplanten Flucht gehalten. In dem Lager haben wir schließlich auch erfahren, dass in Zugliget um eine Kirche herum ein Lager entstanden ist.
Obwohl die Medien nach einigen wenig hilfreichen Aktionen aus dem Lager Zugliget praktisch verbannt worden waren, durfte Ihr Team hinein und konnte sogar in Ruhe filmen und Flüchtlinge interviewen. Wie kam es dazu?
Der Regisseur und ich hatten beide ein ungarisches Internat in Deutschland, die Burg Kastl, besucht. Diese Institution, die teilweise von Jesuiten geleitet wurde, hatte ein gewisses Renommee, sodass Pater Imre Kozma, unter dessen Obhut das Lager stand, wusste, wenn jemand mit diesem Hintergrund kommt, dann ist er vertrauenswürdig. Bei Journalisten von BILD hat er dagegen rigoros von seinem Hausrecht Gebrauch gemacht und ihnen den Zugang verwehrt, diese waren nur rücksichtslos auf Sensationen aus. Zuvor hatten sie etwa Personen abgelichtet und die Bilder eins zu eins veröffentlicht. Man konnte davon ausgehen, dass diese Bilder auch zu den Machthabern in Ostberlin gelangen, so dass die Abgelichteten fortan Angst um ihre Familien haben mussten. Um so etwas in Zukunft auszuschließen, hing am Zaun, das sieht man auch im Film, ein Papp-Schild mit den Worten „Keine Presse!“. Uns betraf dieses Verbot jedoch zum Glück nicht. Eine besondere Szene, die wir im Lager festgehalten haben, war der Besuch von Abgesandten des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik. Da fuhren also drei schwarze Limousinen vor, aus denen Männer in schwarzen Anzügen ausstiegen, die Koffer bei sich hatten. Stellen Sie sich vor, was in den Koffern war – grüne westdeutsche Pässe, frischgedruckt und noch unausgefüllt. Davon wusste die ungarische Regierung natürlich nichts. Das war eine Nacht-und-Nebel-Aktion.
Konnte man denn damit ausreisen?
Mit den Pässen konnten die Leute nicht viel anfangen. Es fehlte ja der Einreisestempel, und ohne den war keine Ausreise aus Ungarn möglich. So mussten sich die Flüchtlinge also Gedanken machen, wie sie auf andere Weise rüberkommen. Einer hat Folgendes gemacht: Er hatte ein Paddelboot bei sich. Mit dem ist er zum Neusiedler See gefahren, der sich sowohl auf ungarischer als auch österreichischer Seite erstreckt. Vorher hat er noch ein Sixpack Bier gekauft. Damit paddelte er auf den See hinaus, trank ein paar Bier und leerte die restlichen Dosen in den See. Dann winkte er ein ungarisches Polizeiboot heran und machte einen auf besoffen: „Ja entschuldigen Sie, ich bin Deutscher und mache auf der österreichischen Seite Urlaub. Ich bin irgendwie eingeschlafen und rüber nach Ungarn getrieben.“ So gelangte er dann sicher in Polizeibegleitung auf die andere Seite bis nach Mörbisch in Österreich und konnte in Freiheit aussteigen. Solche Geschichten hatte man sich natürlich im Camp weitererzählt. Das war natürlich ein einmaliger Trick. Aber jeder machte sich so seine eigenen Fluchtgedanken.
Wie war die Stimmung im Lager?
Die Situation war absolut ungewiss. Die Leute im Lager wussten nicht, ob Ungarn die harte Tour fahren würde. Würde Moskau vielleicht Druck ausüben? Würde man sie an die DDR ausliefern? Würden sie hier noch drei Tage oder drei Monate hocken? Man wusste nichts. Jeder hatte ein Flattern im Bauch, und die Nerven waren angespannt. Dann kommen natürlich auch Massendynamiken hinzu. Aus einer Maus wird dann ein Elefant, einige werden gemobbt, und schnell ist auch ein Verdacht oder eine Bezichtigung ausgesprochen, ob da nicht einer von der Stasi eingeschleust wurde. Für die Leute war es aber auf der anderen Seite auch eine Sicherheit, dass die Presse da war, und so haben sie dann auch Vertrauen zu uns entwickelt.
Eine der spektakulärsten Szenen in Ihrem Film ist, als Sie eine Kolonne von etwa 50 Fahrzeugen, überwiegend Trabis auf Ihrer Flucht durch Ungarn bis an die österreichische Grenze begleiten. Wie kamen diese Bilder zustande?
Zwei Familien, mit denen wir in engerem Kontakt standen, hatten uns in ihre Fluchtpläne eingeweiht. Es gab einen der Flüchtlinge, der der Anführer war, dem haben sie uns vorgestellt. Und plötzlich hieß es: „Morgen früh steigt das Ding.“ Es gab dann am nächsten Morgen noch so eine Art Stabssitzung. Alle Fahrzeuge standen schon mit laufenden Motoren da, jeder hatte eine Landkarte in der Hand. Es hieß dann: „Erstes Treffen um ein Uhr in Agárd am Velencer See“. Dieses nicht auf der direkten Route zur österreichischen Grenze liegende Ziel war aus Gründen der Sicherheit gewählt worden. Kurz darauf fuhren alle Trabis in unterschiedliche Richtungen davon. Man wollte ja keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch wir fuhren los. Zehn Minuten vor eins waren wir an besagter Stelle – aber niemand außer uns war da. Fünf vor eins – immer noch niemand. Wir dachten schon, man habe uns getäuscht, aber dann Punkt eins waren plötzlich alle da. Der nächste Treffpunkt sollte Csorna hinter Győr sein. Es ging also weiter. Unterwegs hörten wir im Radio Nachrichten. So bekamen wir auch den Todesfall am Tag zuvor an der ungarisch-österreichischen Grenze mit. Dass es sich lediglich um einen unglücklichen Unfall handelte, war zu dem Zeitpunkt nicht bekannt. Als wir in Csorna ausstiegen, vibrierte schon die Luft.
Hat jemand auf Grund der Nachricht einen Rückzieher gemacht?
Keiner! Die waren voll entschlossen zu handeln. Die Freiheit, die man nicht hat, ist halt ein wahnsinniges Gut. Außerdem waren das alles junge Leute, und Hoffnung ist ein unglaublicher Katalysator, wenn man die Chance zum Greifen nah sieht.
Wie ging es dann weiter?
Das letzte Stück bis nach Sopron und zur Grenze sind wir als Kolonne gefahren. Wir hatten ausgemacht, dass wir an keiner roten Ampel halten. Es wird gehupt und mit weißen Tüchern gewunken, aber die Kolonne wird unter keinen Umständen aufgebrochen. So sind wir dann tatsächlich durch Sopron durch- – über der Straße hing dort noch ein Transparent für das Paneuropäische Picknick von drei Tagen zuvor – und weiter bis zur Grenzstation gefahren.
Die Szenen, die Sie an der Grenzstation drehen konnten, waren sicher die eindrucksvollsten Bilder Ihres Filmes.
Stellen Sie sich vor, da haben etwa 50 Fahrzeuge kurz vor dem Grenzübergang mitten auf der Straße angehalten, worauf etwa 150 Menschen ausgestiegen sind. In flottem Marsch machten sie einen Bogen um die Grenzstation und bewegten sich zielgerichtet auf die Grenze zu. Den Zaun neben der Station hatte man zuvor schon entfernt und auch die Minen, so hoffte man jedenfalls. Im Film kommt an dieser Stelle auch eine eher absurde Szene vor: Da steigt eine Familie aus ihrem Trabi und fängt an zu laufen, doch nach ein paar Schritten hält der Vater inne, rennt zurück und schließt sein Auto ab. „Der wird sein Auto nie wieder sehen“, hab ich mir gedacht. „Uns schlägt das Herz bis zum Hals, und der hat noch den Nerv, zurück zu rennen, um seinen Trabi abzuschließen.“ Selbst in solchen Situationen bleibt der Deutsche ein Deutscher. Uns fiel weiterhin auf, dass sich die Flüchtlinge nur mit leichtem Handgepäck oder gar nichts auf den Weg machten. Keine Koffer oder Rucksäcke. Nichts, was auf der Flucht hätte hinderlich sein können. Das zeigt auch, wie sehr sie darauf vertrauten, auf der anderen Seite mit dem Nötigsten versorgt zu werden.
Sind Sie mit den Flüchtlingen mitgelaufen?
Nein, für uns mit unseren bundesdeutschen Pässen war der Grenzübergang ja offen. Um die Flüchtlinge auf der anderen Seite der Grenze rechtzeitig mit der Kamera empfangen zu können, sind wir dann direkt durch die Grenzstation gerannt, mit erhobenen Pässen. Der Regisseur, der Kameramann und der Techniker kamen durch, nur ich wurde angehalten. „Haben Sie eine Drehgenehmigung?“, fragte mich so ein Grenzpolizist. Daraufhin holte ich meine Drehgenehmigung hervor, die ich mir am Morgen sorgfältig im Hotelzimmer selber getippt hatte, und überreichte sie ihm. „Und wer hat die unterschrieben?“, fragt er mich. Ich sage ihm: „Der diensthabende Offizier.“ Leider war er das selbst, und so wurde ich verhaftet und für eine Stunde festgehalten, bis man wusste, was man mit mir machen sollte. Mir war ganz mulmig zumute. Den Pass hatten sie mir abgenommen, und ich saß in dieser Zelle. Außerdem war ich zwar Deutscher, aber in meinem Pass stand als Geburtsort Budapest. Inzwischen fluchte der Grenzer im deftigsten Ungarisch, denn vor der Grenzstation staute sich der Verkehr. Die Trabis standen ja alle noch auf der Straße. Da holte er mich aus der Zelle und meinte: „Du hast uns das eingebrockt, also beweg die Trabis hier weg.“
Sie alleine?
Ja! Und ich hatte im Leben noch nie einen Trabi gefahren. Wir haben dann zusammen mit einigen, die da im Stau standen und ungeduldig wurden, alle Fahrzeuge von der Straße in den Graben geschoben. Anschließend habe ich meinen Pass zurückerhalten. Als dann meine Leute aus Österreich zurückkamen, kam dieser Offizier wieder zu uns. Er wollte das Filmmaterial konfiszieren. Ich sag zu ihm: „Ich bitte Sie, meinen Sie das ernst. Wir waren mit dem Material schon in Österreich. Warum sollten wir es zurückbringen? Das ist doch schon längst beim ORF, und heute Abend kommt es in den Nachrichten.“ Das war natürlich ein großer Bluff. Aber er wirkte: Am Ende ließ uns der Offizier passieren.
Wie haben Sie das Material dann nach Deutschland bekommen?
Wir haben einen Bekannten angerufen, von dem wir wussten, dass er noch am selben Tag nach München fliegt, und sind dann schnurstracks nach Budapest gefahren. Mir hat das Herz gepocht, und ich habe mich ständig umgeschaut, ob wir nicht verfolgt werden. Die Geheimpolizei war ja auch bei uns allgegenwärtig. Es ging aber alles gut. Wir haben dann am Flughafen unsere Kassetten übergeben, und unser Bekannter hat sie noch am selben Tag beim Bayerischen Rundfunk abgegeben.
Hätten Sie an diesem Tag gedacht, dass die letzten Wochen der DDR angebrochen waren?
Nein. Wir waren damals zu sehr in die Dinge involviert. Es ist einfach viel zu viel passiert, man hat das gar nicht analysieren oder irgendwie einordnen können. Wir haben einfach mitgemacht.
Waren die Ereignisse und Erfahrungen, die Sie beim Drehen dieses Dokumentarfilms gesammelt haben, ausschlaggebend dafür, dass Sie nach Ungarn zurückgekehrt sind?
Ja, unbedingt. Als wir den Film drehten, haben wir viele Menschen kennenlernen und auch Erfahrungen sammeln können. In Ungarn war die Werbeindustrie nach der Wende praktisch inexistent. Wenn es Werbung gab, dann kamen die Slogans in folgendem Stil daher: „Kaufen Sie Schuhe im Schuhgeschäft“. Die Zeit war also absolut reif für uns. Außerdem kannte ich mich hier bereits aus und hatte schon ein ansehnliches Netzwerk aufgebaut. Anfang 1990 haben wir dann auch unsere erste Firma hier gegründet.
Robert Prokopp lebt heute mit seiner ungarischen Frau und seinem Sohn in Budapest. Als Produzent war er Mitbegründer und Miteigentümer von TV2, des ersten kommerziellen Fernsehsenders in Ungarn. Heute ist er als Berater bei der Fernsehproduktionsfirma Constantin Entertainment Budapest tätig, die er auch selbst mitaufgebaut hat.
Der Film „Otthonról hazáfelé“ (auf deutsch: „Von Zuhause nach Hause“): https://www.youtube.com/user/otthonrolhazafele/videos
Ein sommerliches Hallo an alle Leser der BUDAPESTER ZEITUNG…
an alle die auch heute noch Interesse zeigen für die Flüchtlinge von damals…
bitte ruft Euch doch mal die Seite http://www.flucht-und-ausreise.info von meinem/unserem Verein in Deutschland auf. Wir sind tausende Flüchtlinge die vom wieder vereinten deutschen Staat rückwirkend wieder zu Bürgern dieser unseligen DDR gemacht worden sind und wir sind zu Opfern geworden durch eine Willkür in der deutschen Gestzgebung zum Rentenrecht und konträr zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Kommt bitte auch zahlreich nach Deutschkreutz zu den Veranstaltungen vom 15. – 17. August 2014…die Journalisten in Österreich, in Ungarn rufe ich auf sich an mich zu wenden – hier meine Adresse: wklausdieter@gmx.de ….es gibt noch viel mehr zu schreiben und zu berichten über uns die damls den gesamten Ostblock ins Wanken brachten…viel früher bereits als dann der Sommer und der Herbst 1989 den grossen
Ausschlag dazu gab…
Grüße aus Hamburg – Klaus-Dieter Wohlgemuth
Ich war dabei. Ich habe Heute noch die Tränen im Augen wenn ich das alles lese.
lg. Gerold