
Eleganz bei Hulk & Co. adé: „Der heutige Fußball erinnert viel eher an den körperbetonten und brutalen Handball als an sein früheres Selbst.“
Von László Kiss
Wir konnten uns in den vergangenen Wochen wieder einmal vergewissern, dass derjenige, der den Fußball erfunden und uns mit dem Wunder dieses Spiels beschenkt hat, ein Genie war. Nur Schade, dass er wie jedes Genie einen winzigen Makel hatte: Denn er erschuf zum Spiel auch den Schiedsrichter. Durchaus vorstellbar, dass er dies mit dröhnendem Kopf nach einer durchzechten Nacht getan hat. Auf jeden Fall ist wieder eine Weltmeisterschaft zu Ende gegangen, die insgesamt zwanzigste.
Während die Welt über den Sieg und das erfrischende Spiel der Deutschen frohlockt, werden unter Begleitung von deftigen Flüchen die Schiedsrichter zum Teufel gewünscht. Es hat den Anschein, als stünden alle vier Jahre ausgerechnet die Schiedsrichter im Schlaglicht der Öffentlichkeit und nicht Neymar, Messi, Neuer oder James Rodriguez. Zugleich müssen wir aber auch einräumen, dass der Fußball ohne sie ärmer wäre, es gäbe keine Fehlpfiffe, weniger Debatten, und es wäre auch nicht möglich, jahrelang über fragwürdige und strittige Schiedsrichterentscheidungen zu diskutieren.
Massive Entzugserscheinungen
So stehen also die Dinge nach der WM, und obwohl wir aufgrund der vielen Abendspiele ziemlich unausgeschlafen sind, plagen uns massive Entzugserscheinungen, haben wir uns doch schon daran gewöhnt, quasi tagtäglich ein Match zu sehen. Wir scheinen auch noch nicht begriffen zu haben, dass während der vergangenen vier Wochen Historisches geschehen ist. Nein, nicht die Deutschen, die zum vierten Mal die Weltmeisterschaft gewonnen haben oder die frühzeitig ausgeschiedenen Titelverteidiger aus Spanien haben ein neues Kapitel in der jahrhundertealten Fußballgeschichte geschrieben, sondern die Gastgeber selbst, sprich die brasilianische Nationalmannschaft.
Salopp ausgedrückt haben die Brasilianer schlichtweg vergessen, wie man Fußball spielt. Das ist natürlich auch schon anderen widerfahren, beispielsweise uns Ungarn, gerade deshalb wissen wir aus eigener Erfahrung, dass das Geschehene einen Schritt, ja geradezu einen Quantensprung auf eine höhere, theoretische Ebene markiert. Denn keine andere Nation kann den Fußball besser erklären als wir Ungarn. Wer den Fußball intus hat, der spielt ihn, wer nicht – wie meine Wenigkeit –, der erklärt ihn. Als sich im Ausland seinerzeit jemand als Ungar vorstellte, wurde er prompt mit den Namen „Puskás”, „Kocsis”, „Czibor” (allesamt Mitglieder der „Goldenen Elf”, die 1954 in Bern im WM-Finale stand; Anm.) konfrontiert. Etwas zugespitzt formuliert wollte man früher jeden Ungarn vom Fleck weg verpflichten, stand doch die Vermutung nahe, dass ein Genie à la Puskás in ihm steckt.
Brasilianischer Fußball – das war einmal
So verhielt es sich auch mit den Brasilianern – bis zu dieser WM jedenfalls. Wenn noch vor Jahren jemand beweisen konnte, dass sein brasilianischer Reisepass keine Fälschung ist, konnte aus ihm flugs ein Stürmer, Verteidiger, Tormann oder Klubpräsident werden. Damit ist es aber nun endgültig vorbei. Selbst wenn sie Fußball spielen könnten – was sie aber offenbar nicht mehr können –, gehört die hohe brasilianische Spielkultur der Vergangenheit an. Ein für alle Mal. Im technischen Zeitalter ist nicht die Würde der Titanic schön, sondern die Dynamik der Concorde. Der heutige Fußball erinnert viel eher an den körperbetonten und brutalen Handball als an sein früheres Selbst. (…)
Heute spielen, ja kämpfen muskelbepackte Schlägertypen und Gladiatoren gegeneinander. (…) Es steht nämlich verdammt viel auf dem Spiel. Wenn du gewinnst, bist du wer, verlierst du aber, existierst du nicht. Der Sieg heiligt alle Mittel. Inwiefern dies jemandem gefällt, hängt naturgemäß von der Perspektive ab. Die Deutschen werden jetzt wohl sagen: „Wunderschön!” Die Brasilianer behaupten vermutlich das Gegenteil, wir Ungarn wiederum verkneifen uns eine Meinungsäußerung, obwohl wir, als Fußballtheoretiker par excellence, natürlich einen markanten Standpunkt haben. Doch ist es gar nicht notwendig, unseren eigenen Senf hinzuzugeben, es ist ohnehin offensichtlich: Der Mannschaftsgeist hat gesiegt, die Disziplin, der Fleiß, die Präzision. Obendrein hat ein Mann, Götze, das Finale entschieden, der ein Austauschspieler, sprich ein kleines Zahnrädchen eines perfekt funktionierenden Mannschaftsgefüges ist. Stellt sich nun unweigerlich die Frage, ob die individuelle Klasse eines Einzelspielers oder das Mannschaftsgefüge den Fußball voranbringen.
Also doch! Bis zur nächsten Europameisterschaft (2016; Anm.) gibt es also doch zumindest ein Thema, worüber man diskutieren kann. Und darin sind wir seit geraumer Zeit mehr als geübt.
Der Autor ist Kommentator der rechtskonservativen Tageszeitung Magyar Hírlap. Der hier in Auszügen abgedruckte Text erschien am 15. Juli 2014 ebendort.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar