
Journalist László Kulcsár: „Alle waren sich im Klaren darüber, gerade einem historischen Ereignis beizuwohnen.“ (Fotos: Nóra Halász)
Im zweiten Teil unserer Interviewreihe beschäftigen wir uns noch einmal mit der Szene, deren Bilder um die Welt gingen. Der Journalist László Kulcsár stand an jenem Vormittag unmittelbar neben den Außenministern Alois Mock und Gyula Horn, als diese mit Drahtscheren den Grenzzaun durchschnitten. Wir sprachen mit ihm über den historischen Moment und dessen Auswirkungen.
Der 1941 geborene Kulcsár berichtete damals für das ehemalige Verlautbarungsorgan der ungarischen Regierung, Magyar Hírlap. Seine Karriere begann er 1957 bei der Zeitung des Komitats Győr-Moson- Sopron, seit 1974 ist Kulcsár in Budapest tätig. Bei Magyar Hírlap war er vor allem für die deutschsprachigen außenpolitischen Themen sowie Fragen der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit zuständig.
Wie kam es, dass Sie an dem Ereignis teilnehmen konnten?
Als damaliger außenpolitischer Redakteur des Magyar Hírlap erhielt ich immer Einladungen zu Ereignissen mit Regierungsbeteiligung, so auch für das am 27. Juni. Die Grenzdurchschneidung war Teil von Horns Staatsbesuch in Österreich vom 25. Bis 27. Juni, bei dem es um die Stärkung der Beziehungen beider Länder ging. Neben Amtskollegen Alois Mock traf er auch Österreichs Bundespräsidenten Kurt Waldheim und Vizekanzler Josef Riegler. Auf der Agenda standen Themen wie die geplante gemeinsame Weltausstellung von Wien und Budapest, aber auch die Situation der ostdeutschen Flüchtlinge in Ungarn.
Wie kam es dann zu der symbolträchtigen Aktion?
Im Rahmen der damaligen europäischen Annäherung hatten die Grenzanlagen zwischen Ungarn und Österreich bereits früher ihre Bedeutung verloren. Im Einklang mit der 1975 verabschiedeten Schlussakte von Helsinki sollten die Menschen Europas frei umherreisen können. Im April 1989 wurden erste Abschnitte des 356 Kilometer langen Grenzzauns zwischen Österreich und Ungarn vom ungarischen Grenzschutz entfernt. Diese Aktion wurde jedoch nicht groß publik gemacht, nur Anwohner bekamen davon etwas mit. Natürlich erreichte auch uns diese Nachricht, aber es war noch nicht an der Zeit, darüber zu berichten. Ungarns Regierung wollte die Grenzöffnung noch nicht an die große Glocke hängen, denn man hatte noch nicht die hundertprozentige Zustimmung des sowjetischen Parteichefs Mihail Gorbatschow. Horn und Ministerpräsident Miklós Németh fuhren sodann nach Moskau und teilten ihm diese Tatsache einfach mit. Gorbatschow reagierte mit Schweigen, was man als Zustimmung wertete.
Woher hatten Sie Ihre Informationen?
Ich hatte nicht nur die staatliche Nachrichtenagentur MTI als Quelle, sondern informierte mich auch aus deutschen und österreichischen Medien. So war ich über die dortigen Vorgänge gut im Bilde, aber auch über die stark ansteigende Zahl an illegalen Grenzübertritten von ostdeutschen Flüchtlingen. Diese hatten das Glück, dass Österreich sie wie westdeutsche Bürger behandelte, sie also frei ohne Visum reisen durften, worüber Ost-Berlin natürlich alles andere als glücklich war. Auch der ungarische Grenzschutz verfuhr mit den Ostdeutschen inzwischen überwiegend human und nachsichtig.
Wie kam es zur Grenzdurchschneidungs-Szene?
Sie war von den Stäben der beiden Außenminister im Rahmen einer darauffolgenden internationalen Pressekonferenz organisiert worden. Es gibt viele Gerüchte über die Umstände. Es stimmt etwa, dass erst ein intakter Abschnitt in dem Sopronpuszta genannten Gebiet für das Bild gesucht werden musste. Mit der symbolischen Geste sollte weltweit statuiert werden, dass in uns Ungarn der gute Wille zur Öffnung da ist und dass wir unsere Außenpolitik im Geiste des Helsinki-Abkommens auf eine höhere Ebene heben wollen.
Wie lief die Aktion genau ab?
Wir kamen per Auto, die letzten etwa 50 Meter mussten wir zu Fuß auf einem Feldweg zurücklegen. Es war ein überraschend lockeres Ereignis ohne Protokoll. Die für den Abschnitt zuständigen Grenzschützer empfingen die beiden Minister, erstatteten ordnungsgemäß Meldung und übergaben ihnen dann die Drahtscheren. Danach begannen die beiden, den Draht langsam zu zerschneiden. Sie schnitten an mehreren Stellen des Abschnitts kleinere Stücke heraus, um sie den Anwesenden als Souvenir mitzugeben. Ich erhielt ein Stück von Horn. Mit den Scheren gab es übrigens keine Probleme, höchstens, dass man sie kräftig anpacken musste – was für die beiden, physische Arbeit nicht so gewohnten Herren augenscheinlich nicht so leicht war. Mock sagte unmittelbar danach, dass das der schönste Augenblick seiner diplomatischen Karriere sei: „Tausende Kilometer Drahtzäune und Mauern trennen heute immer noch die Völker in Ost- und Westeuropa voneinander. Das österreichische und ungarische Beispiel beweist, dass man die Zäune beseitigen kann, damit in ganz Europa eines Tages all das eseitigt sei, was uns auf unserem Kontinent voneinander trennt.“ Die ganze Aktion dauerte weniger als eine halbe Stunde. Gegen Ende hin drängten die Assistenten höflich zum Aufbruch, weil noch die internationale Pressekonferenz mit über 100 Pressevertretern im Soproner Rathaus zu absolvieren war.
Wie war die Atmosphäre?
Es herrschte wunderschönes Sommerwetter, 25 Grad und strahlender Sonnenschein. Alle waren sich im Klaren darüber, gerade einem historischen Ereignis beizuwohnen. Die daraus resultierende Anspannung versuchten sie mit etwas Heiterkeit zu überdecken. Es war ein unglaublich wichtiges Ereignis der europäischen Geschichte, dass zwei Minister einfach begannen, den Grenzzaun zwischen Ost und West zu durchschneiden. Ein einfacher, aber nicht wiederholbarer Moment. Als die Zeremonie zu Ende war und wir vom Zaun in Richtung Autos gingen, herrschte absolute Stille. Alle liefen andächtig teils allein, teils in kleinen Gruppen zurück, ich etwa neben Mock. Man schaute sich an und dachte: Das war gut. Es war unglaublich. Mock sagte nur: „So ist das.“

Außenminister Alois Mock und Gyula Horn legen sich für ein ungeteiltes Europa ins Zeug. Im Hintergrund László Kulcsár (4.v.l.). (Foto: MTI)
Wie haben sich die Grenzschützer verhalten?
Die Grenzschützer, die eigentlich sehr streng sind und einen für jeden falschen Schritt zurechtweisen, waren absolut locker und ließen uns gewähren wie wir wollten. Sie begriffen vermutlich gar nicht, bei welch historischem Ereignis sie gerade Zeugen waren. 1989 war angesichts der Umbettung Imre Nagys oder den Gesprächen am Runden Tisch ein turbulentes Jahr für Ungarn, die Menschen wussten manchmal gar nicht, wie es um die nationale Politik steht. Man sah vermutlich gar nicht die Politik in solchen Ereignissen, sondern die Dynamik der Befreiung. Damals bekamen wir einen Vorgeschmack darauf, wie Demokratie sein kann. Auf Dienstreisen im Westen sah ich viel davon, mir wäre aber nie in den Sinn gekommen, dass das auch bei uns in Ungarn bald der Fall sein würde.
Wie viele Menschen waren bei der Aktion anwesend?
Etwa 30, würde ich sagen. Vor Ort waren die Minister und ihre Stäbe, die Botschafter beider Länder sowie deren Mitarbeiter, die Grenzschützer, der Ratsvorstand des lokalen Komitats, der Landeshauptmann des Burgenlands, Dolmetscher, Diplomaten, Vertreter der österreichischen Regierung und der Presse. Darunter etwa Károly Matusz von der ungarischen Nachrichtenagentur MTI.
Von der ungarischen Presse waren nur Sie und Matusz vor Ort?
Nein, es waren noch mehr, so war etwa der damalige MTI-Berichterstatter in Wien, Tibor Sebestyén, an allen drei Tagen von Horns Besuch in Österreich dabei. Auch Vertreter der Népszabadság und von einigen lokalen Blättern waren bei der Drahtszene mit dabei.
Auf einem Foto sieht man Sie mit einem Tonbandgerät in der Hand, wie Sie den Ton der Durchschneidung aufnehmen. Haben Sie das Band noch?
Das Band müsste ich noch haben, ich habe es aber noch nicht gefunden, da ich die Kassette nicht beschriftet hatte. Wenn, dann könnte es aber für ein Museum interessant sein (lacht).
Gaben Ihnen Horn oder Mock vor Ort Interviews?
Die Anwesenden antworteten auf einzelne Fragen, daraus verfasste ich meinen Bericht. Bei der späteren internationalen Pressekonferenz durften insgesamt fünf Fragen gestellt werden – eine an beide Politiker gerichtete kam von mir.
Was haben Sie gefragt?
Ich fragte, ob noch Fragen offen geblieben seien. Horn sagte, dass sie eine ganze Reihe von Dingen beschlossen hätten, aber noch weitere Treffen und eine enge Zusammenarbeit beider Länder nötig seien. Man habe auch den Beitritt Ungarns zur Europäischen Freihandelsassoziation thematisiert, Österreich würde die Initiative unterstützen, wie Mock bestätigte.
Haben Sie einen Unterschied in der Berichterstattung vor und nach der Grenzdurchschneidung bemerkt?
Ja, wobei wir bei der Magyar Hírlap auch zuvor schon relativ frei berichten durften. Wir hatten die Freiheit, über so gut wie alles zu schreiben, wenn es verbürgt war. Unser damaliger Chefredakteur, Zsolt Bajnok war ein Vollblut- Journalist. Er war zugleich auch Regierungssprecher, hatte also immer als erster Informationen aus erster Hand. Bei uns gab es also keinen großen Unterschied. Bei anderen Tageszeitungen, etwa bei der Magyar Nemzet war das anders. Der dortige Kollege, Imre Tatári war ein erfahrener Journalist und auf denselben Gebieten tätig wie ich. Seine Artikel habe ich sehr geschätzt. Bei ihm, aber auch bei anderen Kollegen von Wochenblättern wie hvg oder Magyarország bemerkte ich, dass man nach dem Ereignis offener schrieb. Bereits zuvor hatte es Tatári gut verstanden, seine Botschaften zwischen den Zeilen unterzubringen, nun schrieb und kommentierte er aber deutlich offener, seine Texte wurden griffiger und verständlicher.
Ist die Grenzdurchschneidung also auch ein wichtiger Moment für die ungarische Pressefreiheit?
Sie war ein weiteres grünes Licht für uns. Auch die Informationen strömten nun freier, die Informanten – in meinem Fall vor allem Mitarbeiter im Außenministerium und in westlichen Botschaften – konnten uns freier informieren. Ich konnte zum Glück auch frei aus der DDR, sogar von dortigen Oppositionsveranstaltungen berichten. Zwar geriet das Honecker-Regime immer mehr in Bedrängnis, die Angst vor der Stasi war aber bis zum Ende allgegenwärtig. Auch mir rief sie sich in Erinnerung, als ich einmal nach der Rückkehr in ein Berliner Hotel mein Hotelzimmer etwas „umgestaltet“ vorfand. Ich weiß nicht, ob sie etwas suchten, oder nur „ein Zeichen“ setzen wollten.
Hätten Sie damals gedacht, dass die Fotos von Grenzdurchschneidung einmal zur Versinnbildlichtung des Endes des Kalten Krieges werden sollten?
Ehrlich gesagt: nein. Die Zeiten damals waren so turbulent, es gab 1989 so viele Ereignisse. Die Grenzdurchschneidung war nur eins, wenn auch ein sehr wichtiges davon. Seit Helsinki 1975 ging es ja für Ungarn in Richtung eines grenzfreien Europas. Das war auch für mich persönlich sehr wichtig, ich habe seit meiner Kindheit im multikulturellen Győr eine Europa-Manie.

Kulcsár mit seinem Stück des Grenzdrahtes meint, dass heute wieder geistige Eiserne Vorhänge von manchen Politkern errichtet werden.
Haben sich Ihre damaligen Hoffnungen erfüllt? Ist Europa nach der Grenzdurchschneidung wirklich enger zusammengerückt?
Horn hatte damals schon Stück für Stück Brücken zwischen den Ideologien und Gesellschaftssystemen gebaut. Er war kein ungarischer Freiheitskämpfer, sondern ein Wegbereiter der europäischen Integration, der seiner Zeit um mindestens 15 Jahre voraus war und der, im Rahmen seiner Möglichkeiten, Teil der internationalen Politik sein wollte, als er mit Mock symbolisch die Grenze zwischen Ost und West beseitigte. Dadurch, dass er so den Ostdeutschen die Ausreise in den Westen ermöglichte, trug er zudem bedeutend zur deutschen Wiedervereinigung bei. Der Anschluss an Europa führte für Ungarn dennoch erst 2004 zum EU-Beitritt – also zu dem, worauf wir bereits 1989 gehofft hatten. Die kleinkarierte, egoistische Politik Ungarns hat diejenigen Ideen nicht zur Geltung kommen lassen, die bereits nach dem Helsinki-Abkommen anvisiert, aber erst 2004 erreicht wurden. Bestimmte unsichtbare Grenzen werden seitdem wieder aufgebaut, es gibt wieder einen geistigen Eisernen Vorhang. Und dieser kommt nicht von westlichen Ländern, die hundert Jahre Übung in Demokratie haben, sondern von einzelnen, von der Macht verblendeten Politikern auf unserer Seite. Ungarns heutige Politiker wollen etwa immer die inzigartigkeit des Landes hervorheben, und möchten wieder Einfluss auf ehemalige groß-ungarische Gebiete nehmen. Wen interessiert in einem grenzenlosen Europa noch, wo in der Vergangenheit einmal die Grenzen verliefen? Allzu nationale Politik und der Nationalismus einzelner europäischer Länder tun heute Europa und dem Gedanken nicht gut, für den damals einige ihr Leben riskierten.
Stehen Sie noch in Kontakt mit Teilnehmer am damaligen Ereignis?
Ich hatte noch lange Kontakt mit Károly Matusz, den ich zu seiner Fotografen- Karriere ermutigte. Ein großes Talent, leider verstarb er vor zwei Jahren jung. Ein paar Mal traf ich noch János Nagy, den damaligen Botschafter Ungarns in Wien, dessen österreichischen Amtskollegen in Budapest Franz Schmidt und ebenso den burgenländischen Landeshauptmann Johann Sipötz. Zudem verschiedene Mitarbeiter des Roten Kreuzes, so die Gründerin des ungarischen Malteser Caritas Hilfsdienstes, Csilla von Boeselager, sowie Imre Kozma, den Präsidenten des Ungarischen Malteser Hilfsdienstes, die beide wichtige Arbeit in den Flüchtlingslagern in Ungarn leisteten, aus denen ich später berichtete. Gerd Vehres, der damalige DDR-Botschafter in Budapest, gab mir sein letztes Interview als Botschafter. Darin redete er erstaunlich offen.
Gab es Überlegungen zu einem Treffen der damals in Sopronpuszta Anwesenden zum diesjährigen Jubiläum?
Ich weiß nur, dass am 27. Juni diesen Jahres der Staatssekretär des ungarischen Ministeriums für Außenwirtschaft und auswärtige Angelegenheiten sowie der österreichische und der slowakische Außenminister ein kurzes Gedenken vor Ort abhielten. Über eine Einladung oder ein Treffen der Teilnehmer von vor 25 Jahren habe ich keine Kenntnis.
László Kulcsár ist heute verantwortlicher Redakteur des im Jahre 2000 gegründeten Nachrichtenportals infovilag.hu und beobachtet immer noch wachsam und mit großem Interesse das internationale Geschehen insbesondere in Österreich und Deutschland.