Am 2. Mai 1989 hatte Ungarn aus verschiedenen politischen, aber auch finanziellen Erwägungen heraus damit begonnen, die Befestigungsanlagen an der Grenze zu Österreich zu demontieren. Der Beginn der Arbeiten wurde mit entsprechenden Fotos und einer Pressekonferenz auch öffentlich bekannt gemacht. So entstanden auch Fotos, auf denen ungarische Grenzschützer beim Einrollen von Stacheldraht an einem Grenzzaun zu sehen sind.
Trotz derselben Aussage wurden jedoch nicht diese, sondern erst die knapp zwei Monate später geschossenen Fotos, auf denen der ungarische Außenminister Gyula Horn zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock dabei zu sehen sind, wie sie mit Drahtscheren den Stacheldraht an einem Grenzzaun zerschneiden, zum erstrangigen fotografischen Zeugnis des faktischen Endes des Eisernen Vorhangs an der ungarisch- österreichischen Grenze. Einer der beiden Hauptexponenten dieser auf österreichische Initiative zustande gekommenen historischen Szene, Gyula Horn, verstarb am 19. Juni 2013. Der inzwischen 80-jährige Alois Mock lebt von schwerer Krankheit gezeichnet zurückgezogen. Wir sprachen mit Dr. Martin Eichtinger, der heute als Leiter der Kulturpolitischen Sektion im österreichischen Außenministerium tätig ist und damals als persönlicher Sekretär von Alois Mock bei der historischen Grenzdurchschneidungsszene zwischen Klingenbach und Sopron zugegen war.
Wie denken Sie an diesen Tag zurück?
Es war ein ganz historischer Tag. Zwar war der Eiserne Vorhang schon zuvor über weite Strecken abgebaut gewesen, aber die Symbolik dieses Tages war beeindruckend. Später stellten wir im Kabinett des Außenministers eine Presseartikelsammlung für ihn zusammen. Es wurde ein mehrere Zentimeter dickes Konvolut mit großartigen Artikeln aus der ganzen Welt, von Australien bis Südamerika. Es war ein unglaubliches, weltweites Echo. Die Fotos dieser Szene gingen wirklich um die Welt.
Stimmt es, dass der Abschnitt, an dem die Durchschneidungsszene stattfand, eigens zu diesem Zweck wiederhergerichtet werden musste?
Zum Zeitpunkt der Aktion war der Grenzzaun direkt an der Grenze zu Österreich bereits zur Gänze beseitigt. Unsere Szene fand daher weit innerhalb Ungarns am zweiten Zaun statt. Heute gibt es an dieser Stelle einen Gedenkstein. Die historischen Fotos von diesem Tag zeigen, dass der zweite Zaun noch bestand. Man konnte ihn über eine sehr lange Strecke entlang des Grenzstreifens sehen. Auch ein zweiter, niedrigerer Zaun in unmittelbarer Nähe war noch vorhanden. Es war aber für diese Aktion nicht wichtig, ob der Grenzzaun noch funktional vorhanden war, es ging hier um Symbolik.
Wie erklären Sie es sich, dass die Aufnahmen dieser gestellten Szene deutlich populärer wurden als die von den realen Abbrucharbeiten Anfang Mai?
Bernhard Holzner, der Fotograf des Außenministers und Vizekanzlers Alois Mock, war Anfang Mai an der Grenze, als die ungarische Seite damit begonnen hatte, den Stacheldraht zu entfernen und hat viele Fotos davon gemacht. Er hatte die Demontage als eine Sensation empfunden und die Aufnahmen vielen Zeitungen in Österreich angeboten. Doch es gab kaum Interesse daran. Man hatte die Bedeutung der fotografierten Handlungen einfach nicht erkannt. Der Fotograf kam dann zum Pressesprecher des Ministers und beklagte sich, dass kein so rechtes Interesse an dieser Weltsensation vorhanden sei. Nach einer Unterredung mit seinem Pressesprecher hat Alois Mock dann gesagt: „Das müssen wir zeigen. Davon muss die Welt erfahren!“ Er hat dann veranlasst, dass ein offizielles Einladungsschreiben an Außenminister Gyula Horn gerichtet wurde mit der Bitte, man möge doch zusammen symbolisch eine Durchschneidung vornehmen. Es hat dann noch einige Zeit gedauert, bis eine Antwort kam. Ich glaube, dass der Brief bereits Ende Mai, Anfang Juni nach Budapest ging. Man hat das dann auch mit einem bilateralen Gespräch und einer Pressekonferenz in Sopron verbunden. Alois Mock hatte die symbolische Bedeutung der geplanten Handlung sehr rasch erkannt. Es dauerte dann allerdings noch eine Weile, bis sie wahr wurde. Das große Medienecho und die weltweite Verbreitung der Nachricht und der Fotos zeigten wenig später, wie richtig Mock lag.
Erstaunlich, dass bei einer so wichtigen Szene der Weltgeschichte nur so wenig Fotografen am Ort des eher visuellen Geschehens waren.
Direkt beim Durchschneiden waren nur wenige Fotografen zugegen. Von österreichischer Seite war nur Bernhard Holzner anwesend. Vielleicht war noch jemand von der ungarischen Seite da, das kann ich nicht mehr genau sagen. Es gab aber auch ein Kamerateam, denn es gibt Filmaufnahmen vom Durchschneiden. Bei der anschließenden Pressekonferenz in Sopron waren dann jedoch zahlreiche Journalisten und Fotografen anwesend. Bernhard Holzner hat an der Grenze viele Fotos gemacht. Auf einem davon bin auch ich zu erkennen. Dieses steht jetzt in meinem Büro in Wien.
Aber warum waren nicht mehr Fotografen eingeladen?
Alles war auf die Pressekonferenz in Sopron zugespitzt. Außerdem war der Grenzabschnitt, an dem sich die Szene abspielte, nicht so leicht zu erreichen. Wo es heute eine asphaltierte Zufahrtsstraße gibt, waren damals nur Feldwege. Wahrscheinlich war das das Problem, warum am Ort der Handlung nur relativ wenige Personen anwesend waren.
Gut auf jeden Fall für den einzigen Fotografen auf österreichischer Seite!
Für den war es natürlich das ganz, ganz große Bild, wenn nicht gar das Bild seines Lebens. Er hat noch jahrelang viele Fotos von unserem Außenminister und anderen österreichischen Politikern gemacht. Aber diese eine Serie an der Grenze war mit Abstand seine wichtigste.
Wer war damals außer den bisher genannten bei der Szene noch zugegen?
Der ungarische Botschafter, der Landeshauptmann vom Burgenland und ein paar Journalisten, die Alois Mock selbst mitgebracht hatte, weiterhin die Protokollchefs und Mitarbeiter der Minister. Daneben waren auch noch einige Grenzsoldaten anwesend, die den Ministern geholfen haben.
Was ist an den Anekdoten bezüglich der Drahtscheren dran?
In den Memoiren von Gyula Horn, die es auch auf Deutsch gibt, beschwert sich der ehemalige Außenminister darüber, dass seine Schere nicht gut funktioniert hat. Ja, er äußert sogar die Vermutung, dass er bewusst eine Schere bekommen hat, die schlecht schnitt. Er hatte wohl Pech, dass er eine Schere ausgewählt hatte, die nicht so gut funktionierte. So schlecht scheint aber auch diese Schere nicht geschnitten zu haben: Unmittelbar nach den entscheidenden Schnitten am Zaun begannen beide Minister damit, Teile der herausgetrennten Stacheldrahtstücke
in noch kleinere Stücke zu zerschneiden – in richtiger Vorahnung, dass dies extrem begehrte Souvenirs werden könnten.
War es nicht riskant, die falsche Illusion zu schüren, zwischen Österreich und Ungarn gäbe es keine befestigte Grenze mehr? Gab es keine Bedenken, eine unkontrollierbare Flüchtlingswelle in Gang zu setzen?
Nein, ganz und gar nicht.
Aber die Grenze wurde doch auch ohne Grenzzaun weiterhin von bewaffneten Grenzsoldaten bewacht. Aufgegriffene DDR-Bürger wurden zurückgeschickt. Hatte man keine Bedenken, mit solchen Fotos falsche Erwartungen zu wecken?
Alois Mock war absolut überzeugt davon, dass es früher oder später zu einer Überwindung der Teilung Europas kommen würde. Er war da auch sehr stark geprägt von seinem Mentor, dem früheren Bundeskanzler Josef Klaus, einem echten Europäer, der immer erklärt hatte, dass für ihn Europa nie vollkommen sein könne, solange Osteuropa nicht mit dabei sei. Alois Mock hat immer die Vision gehabt, dass eines Tages nicht nur der Eiserne Vorhang fallen, sondern dass auch Osteuropa in die europäische Integration mit einbezogen würde. Das war seine politische Überzeugung. Für die Verwirklichung dieser Vision mussten entsprechende Signale gesetzt werden.
Also hat beim ihm der Wunsch nach der Verwirklichung einer langfristigen Vision mögliche Bedenken wegen kurzfristiger Risiken vom Tisch gewischt?
Mock hat diesen Schritt wirklich in einem größeren Zusammenhang gesehen. Man darf nicht vergessen, dass Österreich gut zwei Wochen nach der besprochenen Szene am 17. Juli seinen Antrag auf Beitritt zur EG einreichte.

Sich selbst wiederentdeckt: Dr. Martin: Dr. Martin Eichtinger gehört zu den etwa zwei Dutzend Personen, die die Grenzdurschneidungsszene nicht nur von Fotos kennen.
Welche Rolle hat Österreich in dieser Zeit im Zuge der sich anbahnenden Grenzöffnung für die Ostdeutschen gespielt? Gab es entsprechende Gespräche mit der ungarischen Führung?
Es hat regelmäßig Gespräche gegeben. Die Idee von Alois Mock war damals, dass Österreich mit Ungarn, einem kommunistischen Land des Warschauer Paktes, dem blockfreien Jugoslawien und dem EG-Mitgliedsland Italien eine regionale Kooperation schafft, innerhalb der es dann unter anderem eine engere kulturelle Zusammenarbeit gibt. Daraus entstand später die Zentraleuropäische Initiative. Es ging dabei um Wandlung durch Annäherung und letztlich um die Vision einer friedlichen Überwindung der Teilung Europas.
Österreich ging es also mehr um das europäische Gesamtkonzept als speziell um das Schicksal der DDR-Flüchtlinge?
Natürlich ging es uns auch um die Situation der DDR-Bürger in Ungarn. Schon allein deshalb, weil ihr Weg über Österreich nach Deutschland führte. In diesem Zusammenhang gab es eine Fülle an entsprechenden Kontakten. Dafür spricht auch, dass die Aufnahme und Weiterreise Zehntausender DDR-Flüchtlinge letztlich so problemlos vonstatten ging. Es gab permanente Kontakte sowohl mit der ungarischen Führung als auch mit Deutschland, speziell mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, mit dem auch Mock damals ständig im Gespräch war.
Was plant Österreich zum Jubiläum?
Wir planen eine Vielzahl an Veranstaltungen zu den einzelnen Jubiläen des Falls des Eisernen Vorhangs in diesem Jahr. Wichtig ist uns dabei auch die Einbeziehung von Jugendlichen. Unserem jungen, erst 27 Jahre alten Außenminister Sebastian Kurz ist es ein besonderes Anliegen, dass auch diejenigen, die 1989 noch nicht auf der Welt waren, den Wert
der Freiheit zu schätzen wissen.
Nach seiner Zeit als persönlicher Sekretär von Alois Mock war Dr. Eichtinger unter anderem Leiter des Österreichischen Presse- und Informationsdienstes in Washington (1992-1999), Kabinettschef des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit (2003-2007), Generalsekretär des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (2006-2007) und österreichischer Botschafter in Rumänien und Moldau (2007-2010). Seit 2010 leitet er die Kulturpolitische Sektion im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten.