„Für Kunden von Luxusmarken ist es ganz normal, vor der Eröffnung eines neuen Geschäfts oder der Einführung eines neuen Produkts vor dem Laden zu warten. Bei Obdachlosen ist dieselbe Tätigkeit, also das Verweilen an einem Platz in edleren Vierteln, verboten.“ So erklärt der finnische Künstler Jani Leinonen sein Projekt „Hunger King“ in der Andrássy út.
Wer am vergangenen Freitag in den frühen Abendstunden die Prachtstraße Andrássy út hinabschlenderte, dem wird neben der Oper ein etwas ungewöhnliches Geschäft aufgefallen sein. „Hunger King“ steht dort. Der Name, das Logo, alles wirkt irgendwie bekannt, und doch ist hier alles ganz anders. Zuerst einmal das Publikum. Denn wo sonst wohlsituierte Damen und Herren und fotografierende Touristen die Schaufenster entlang schlendern, sah man am Freitag ein etwas anderes Publikum vor dem Geschäft an der Ecke Hajós utca. Die in der Reihe Wartenden wissen eigentlich nicht so genau, was sie hier erwartet, einige von ihnen tragen große Taschen und Beutel mit sich – unverkennbare Zeichen des Lebens auf der Straße und ein seltener Anblick auf der Budapester Prachtstraße. Denn spätestens seit dem gesetzlichen Verbot des „Lebens auf der Straße“ (die Budapester Zeitung berichtete) ist die Andrássy út kein sicheres Pflaster für wohnungslose Menschen.
Zur Erinnerung: Obwohl das Verfassungsgericht das sogenannte Obdachlosengesetz erst kippte, peitschte die nationalkonservative Regierung von Viktor Orbán nach einer Verfassungsänderung eben dieses fast im selben Wortlaut doch durchs Parlament. Dieses Gesetz verbietet es Menschen, ihren „Lebensmittelpunkt“ auf öffentlichen Plätzen im Bereich des Weltkulturerbes, einer bestimmten Bannmeile drum herum und in Verbotszonen der einzelnen Stadtbezirke zu haben, andernfalls droht eine Geldstrafe von bis zu 150.000 Forint (knapp 500 Euro). Wer diese Strafe nicht berappen kann, geht schnurstracks ins Gefängnis. Das Gesetz wurde national und international scharf kritisiert.
Menü heute: Tagessatz
Nun stehen sie also vor dem Hunger King, einem Projekt von Jani Leinonen, mit der Unterstützung der gemeinnützigen kulturellen Stiftung Finnagora. „Eine Hilfsorganisation für Obdachlose hat uns im Vorfeld viel unterstützt und uns „Kunden“ für den Hunger King vermittelt.“ Denn bedient wird im „Hunger King“ in selbst für Budapest einzigartiger Weise: 3.400 Forint erhält jeder Kunde, der Tagessatz eines Mindestlohnarbeiters. „Zwar ist es Obdachlosen nicht gestattet, sich auf der Andrássy út aufzuhalten, aber unseren Kunden kann das kaum verwehrt werden“, erklärt Jani Leinonen das Konzept. Und tatsächlich: Im Inneren wird mit Sekt angestoßen, und ein Streichquartett sorgt für die musikalische Untermalung. Alles wirkt wie bei einer x-beliebigen Ladeneröffnung. Erst wenn man sich etwas genauer im Hunger King umsieht, wird einem bewusst, dass hier vieles, wenn nicht gar alles anders ist als in den Geschäften rundherum.
Schockierender Moment
Da wäre zum einen die Dekoration. Hübsch gerahmt hängen an den Wänden verwitterte Schilder. Die Aufschriften sind mit der Hand geschrieben und tragen alle dieselbe Botschaft: Die Bitte um Hilfe. Jani: „Wir haben diese Schilder tatsächlich von Obdachlosen selbst bekommen, das sind keine Reproduktionen.“ Um an diese Schilder zu gelangen war die Hilfe verschiedener Organisationen nötig. Neben der Zivilorganisation „Die Stadt gehört allen“ (A város mindenkié) war es vor allem eine andere große Hilfsorganisation, die dem finnischen Künstler bei der Vorbereitung des Hunger King zur Seite stand. „Allerdings möchte diese Organisation nicht namentlich genannt werden“, erklärt Jani Leinonen im Gespräch. Auf die Frage nach dem „Warum“ ist die Antwort einfach: „Die Organisation und ihr Betrieb hängen von staatlichen Geldern ab. Wenn sie mit einem kritischen Projekt in Verbindung gebracht wird, könnte sie diese Mittel verlieren.“
Doch auch andere Helfer im Hintergrund bevorzugen es, anonym zu bleiben. Jani berichtet von einem ungarischen Professor, der ebenfalls um Anonymität im Zusammenhang mit dem Kunstprojekt gebeten hat, da sonst „nicht nur er gefeuert würde, sondern der ganze Lehrstuhl vor dem finanziellen Aus stünde“. Dies sei die schockierendste Erfahrung seines nunmehr fünften Aufenthaltes in Ungarn gewesen, „das hätte ich wirklich nicht erwartet“. Generell seien es vor allem die Machtverhältnisse in Ungarn, die Jani beunruhigen: „Es hat mir wirklich die Augen geöffnet, zu sehen, wie ein Land unter einer Ein-Parteien-Regierung und ohne funktionierende Opposition läuft.“
Vor dem Hunger King selbst, warten jeden Tag Menschen, seit der Eröffnung sind es täglich etwa fünf bis zehn Personen mehr. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass hier zumindest etwas Hilfe auf Bedürftige wartet. 3.400 Forint können für Obdachlose wirklich einen Unterschied machen. „Am Tag der Eröffnung haben wir 50 „Rationen“ ausgegeben. Danach wollten wir eigentlich nur noch 20 „Menüs“ pro Tag ausgeben.“ Im Hunger King wird nicht nach Einkommen oder Wohnort gefragt, jeder, der sich hier um Hilfe anstellt, wird gleich behandelt: „Wir versuchen, so viele „Kunden“ wie möglich am Tag zu bedienen, solange das Geld eben reicht.“ Eigentlich sollen noch bis zum 6. Juli täglich „Menüs“ verteilt werden, „das schaffen wir aber nur, wenn wir noch Spenden erhalten“, weiß Jani Leinonen. Bis dahin gilt: „Wir schicken niemanden weg, wir lassen niemanden hängen!“ Eine Einstellung, die er auch der ungarischen Regierung wünscht.