Am vergangenen Montag wurde das Marktgelände an der Kőbányai út endgültig geschlossen. Vom langen Vorspiel bis zum finalen Entschluss berichtete die Budapester Zeitung im Vorfeld. Während die Zukunft des Geländes im Ungewissen liegt, haben sich die meisten Händler bereits eine neue Heimat gesucht. Die Stammkunden trauern dem Markt dennoch nach.
Er hatte viele Namen: „Négy Tigris” (Vier Tiger), „Józsefvárosi piac” (Józsefvároser Markt) oder einfach „Kínai piac” (Chinesischer Markt). Jahrelang war er eine Institution in Budapest,um günstig Bekleidungsartikel zu kaufen, vom verwöhnten Budapester Innenstadtleben in eine Schattenwelt zwischen Legalität und Kriminalität zu spicken oderdas Fernweh nach Asien zu stillen. Denn bis vor Kurzem scharten sich auf dem Geländeim VIII. Bezirk zwischen Orczy tér und Könyves Kálmán körút noch Händler und Käufer unter Wellblechhütten und zerbrechlich anmutenden Metallkonstruktionen. Ursprünglich hauptsächlich von Chinesen betrieben, übernahmen in den vergangenen Jahren nach und nach Vietnamesen den Marktbetrieb, während ein Großteil der Chinesen zu Gastronomie und Großhandel umsattelte. Doch auch die Sprachen des Balkans und der arabischen Welt hörten Besucher des Négy Tigris häufig in den engen Marktgassen. An wenigen Orten war Budapest so multikulturell wie hier.
Nun ist der legendäre Józsefvárosi piac menschenleer. Allein nackte, beinlose Schaufensterpuppen, Müll aus Pappe, Plastik und Parfümverpackungen und ruinöse Verkaufsstände bevölkern den Markt – zumindest so lange, bis auch sie vom Aufräumkommando abtransportiert werden. Insgesamt 80 Polizisten durchsuchten laut ungarischer Nachrichtenagentur MTI am vergangenen Montag die verbliebenen Buden und öffneten verschlossene Marktstände mit Bolzenschneidern. Um 9 Uhr morgens hatten die Beamten die Durchsuchung des 40.000 Quadratmeter großen Geländes abgeschlossen, anschließend folgte die mehrere Stunden andauernde Überprüfung durch den Gerichtsvollstrecker Zoltán Schmidt und den Eigentümer und gleichzeitigen Grund der Schließung: die Ungarischen Staatsbahnen MÁV Zrt.
Nahenden Todesstoß spürten auch Händler
Die Vorgeschichte der finalen Räumung des Marktes ist von Streitereien und Anschuldigungen zwischen dem Eigentümer und dem Pächter des Geländes durchsetzt. MÁV hatte den 2007 mit dem bisherigen Pächter, Komondor Kft., geschlossenen Vertrag im Juni vergangenen Jahres mit einem notariell beglaubigten Schriftstück gekündigt. Laut MÁV beinhaltete diese Kündigung eine Frist von 150 Tagen, welche einer Übergabe des Marktgeländes am 21. Oktober gleichgekommen wäre. Der Fall ging vor Gericht, als György Bálint, Geschäftsführer von Komondor, die Gültigkeit der Kündigung anzweifelte. Laut Bálint ist das Gerichtsurteil noch immer nicht ausgesprochen – für den bisherigen Pächter einer der Gründe, warum er das Gelände zur Übergabe nicht wie gefordert räumen ließ.
Nach den juristischen Schritten 2013 von Seiten Bálints stellte MÁV den Strom für das Marktgelände ab und drohte sogar damit, auch den Wasserhahn zuzudrehen. Der Marktbetrieb lief derweil mehr oder minder ungestört weiter, wenngleich die Anzahl der Händler und Kunden sukzessive abnahm. Von den Gerüchten um eine Schließung hatte jeder bereits gehört.
Das anschließend eingeleitete Vollstreckungsverfahren sollte Komondor als Pächter und damit den Marktbetrieb auf dem Gelände der MÁV endgültig untätig machen. Im Mai dieses Jahres verlor der Markt dann seine Betriebsgenehmigung, und neben der Schließung des Geländes wurde die Streichung aus dem Register beschlossen: quasi der Todesstoß für „Jozsó”, wie der Józsefvárosi piac von seinen Stammkunden genannt wurde. Während einer Pressekonferenz im Rahmen der Räumung sagte Boglárka Korsós von MÁV, dass Komondor Kft. seit November keine Miete mehr gezahlt und Schulden von mehr als 200 Millionen Forint angehäuft hätte, was die Firma jedoch nicht daran gehindert habe, weiterhin Mietbeträge von den Marktverkäufern einzusammeln. Die Frage nach den Gründen für die Räumung konnte aber auch Korsós nur wie folgt beantworten: „Weil der Eigentümer es so beschlossen hat.”
Illegale Waren unter Wellblech
In der Vergangenheit gab es bereits vielfach Anstrengungen, den Markt zu schließen. So rief Máté Kocsis, Bürgermeister des VIII. Bezirks, die Staatliche Ungarische Vermögensverwaltung (Magyar Nemzeti Vagyonkezelő) und die Immobilienverwaltung der MÁV im Juni 2013 auf, den Vertrag mit Komondor Kft. aufzulösen. Seiner Meinung nach fielen durch den Marktbetrieb jährlich allein 15 Milliarden Forint Steuereinnahmen für den ungarischen Staat weg, während viele der verkauften Waren gestohlen seien und den Markt zum kriminellen Knotenpunkt machten – nicht zu sprechen von all den gefälschten Waren mit Markennamen wie „Abibas” oder „Bay Ran”, die Polizisten und Zollbeamte zu regelmäßigen Razzien zwangen. Bei der polizeilichen Durchsuchung am vergangenen Montagmorgen fanden die Beamten viele Hinterwände und Kammern in den Buden. Auch unausgesprochen ist klar, dass viele der illegal gehandelten Waren hier versteckt wurden, sobald es zu Razzien kam, „oder sie wurden einfach auf die unzähligen Wellblechdächer geworfen, da hätten die Bullen ja höchstens mit Drohnen einen Überblick drüber”, schreibt ein User im Forum www.gyakorikerdesek.hu.
Das hohe Kriminalitätsaufkommen auf dem Józsefvárosi piac ging längst auch MÁV gegen den Strich. Gegenüber RTL Klub sagte Boglárka Korsós von MÁV, dass „so eine Art Markt auf einem derart gut gelegenen Gelände mitten in der Stadt im 21. Jahrhundert” nicht erlaubt werden dürfe.
Nach dem Schlussstrich unter der Geschichte des Négy Tigris fragen sich nun viele, was aus dem Marktgelände und den ehemaligen Händlern wird. In der Tram Nummer 28, die vor dem Haupteingang des Marktes bis zum Blaha Lujza tér fährt, spekulieren die Anwohner: „Ich habe gehört, dass die einen Vergnügungspark hier hinbauen”, sagt ein Mann mit verspiegelter Sonnenbrille. „Ja, oder irgendeine Gedenkstätte”, antwortet ihm ein älterer Herr. „Ich habe ja von einem Kulturzentrum für Jugendliche gehört”, sagt eine neben dem sonnenbebrillten Mann sitzende Frau. Auf die Frage, ob sie denn oft auf dem Józsefvárosi piac eingekauft hätte, antwortet sie: „Nur! Hier haben 20 Stück Handtücher 300 Forint gekostet. So billig kann man sonst nirgendwo einkaufen! Und ich mochte diesen Markttrubel.” „Den anderen chinesischen Markt gegenüber (Eurosquare, Anm.) wollen sie ja auch zumachen”, kommentiert nochmal der Mann mit Brille. „Nein, den können sie nicht schließen, der gehört ja nicht der MÁV, sondern Chinesen”, weiß der ältere Herr.
Doch welche Konsequenzen hat die Schließung des Józsefvárosi piac für die bisherigen Händler vor Ort? Tian Zhang, Moderator einer chinesischen Sendung bei Tilos Rádió, erklärt gegenüber der Budapester Zeitung, dass man zwar nur von Tendenzen sprechen könne, die Marktverkäufer jedoch seiner Meinung nach grundsätzlich keine Existenzängste haben bräuchten. „Den Händlern ist durch die Schließung des Marktes im Grunde nur ein Geschäftsraum abhanden gekommen, für den es aber viele andere Alternativen gibt.” Auf der halboffiziellen Facebook-Seite des Józsefvárosi piac sorgen sich indes bisherige Stammkunden, sie könnten bei den umliegenden Großhändlern nicht in geringer Stückzahl kaufen. Zhang beruhigt: „Gegenüber dem Markt, im ’kis gyár’ (kleine Fabrik, Anm.) unter der Nummer 25, waren auch bisher schon viele Einzelhändlerin Betrieb. Ich denke, dass viele dorthin umziehen werden.” Unter den Vietnamesen dürften laut Zhang viele ins Sárkány Center (Drachen Center) unweit des Budapester Flughafens umsatteln, während Wohlhabendere das Ázsia Center (Asien Center) bevorzugten. „Viele Chinesen machen aber gar keine Geschäfte im kleinen Stil mehr, sondern arbeiten für größere chinesische Händler”, erklärt Zhang. „So ist zum Beispiel das Monori Center im X. Bezirk zustande gekommen, das ebenfalls ein potenzieller Ort für die bisherigen Marktverkäufer ist.”
Während György Bálint, Geschäftsführer von Komondor, die Schließung des Marktes nach wie vor mit Unverständnis betrachtet, sind die ehemaligen Händler längst mit ihren Waren weitergezogen. Neben der Durchsuchung des Geländes hatten die vielen Polizisten am vergangenen Montag weder an den Zugängen zum Markt noch auf dem Négy Tigris selbst viel zu tun. Ein von der MÁV angestellter Sicherheitsbeamter sagte gegenüber der Budapester Zeitung, keiner der Händler hätte sich gegen den Räumungsbeschluss gewehrt.