
Klare Ansage statt einfacher Anleitung: Jürgen Habermas stellte sich in Budapest zwei Stunden lang den Fragen der Journalisten. (Foto: MTI)
Seit Jahren habe er schon keine Pressekonferenzen oder Fernsehauftritte mehr absolviert, erklärte Habermas am vergangenen Freitag. Deshalb bat er beim Gespräch mit den Journalisten im Goethe Institut Budapest auch um Verständnis dafür, dass er ein wenig eingerostet im Umgang mit der schreibenden Zunft sei. „Normalerweise versuche ich sie zu meiden“, erzählte er scherzhaft. Gemieden hat einer der bedeutendsten Denker Europas dafür keine einzige der Fragen, die die interessierten Journalisten an ihn richteten.
Im August vergangenen Jahres hatte der Philosoph und Soziologe bereits eine Ausnahme gemacht und in der Türkei in der Öffentlichkeit gesprochen, nun folgte mit Budapest eine zweite. Nur mit vereinten Kräften gelang es Tamás Szűcs, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Ungarn, und Jutta Gehrig vom Goethe-Institut Budapest, Habermas in die ungarische Hauptstadt zu locken. Neben dem Pressetermin hielt der emeritierte Professor am Donnerstag eine Vorlesung an der Eötvös Loránd Universität mit dem Titel „Europäische Bürger, Europäische Völker“ und nahm am Freitag an einem Podiumsgespräch im Európa Pont teil. Die meisten Fragen der Journalisten richteten sich denn auch auf die in der Vorlesung angeschnittenen Themen.
Mit den Problemen der europäischen Integration beschäftigt sich Habermas schon seit vielen Jahren. Er ist wohl auch einer der prominentesten Fürsprecher, aber auch Kritiker der EU. 2011 verteidigte Habermas in seinem Essay „Zur Verfassung Europas“ die europäische Gemeinschaft gegenüber den scharfen Angriffen seiner Kritiker, und erst vor Kurzem, Anfang Mai, hielt der renommierte Philosoph einen Vortrag an der US-amerikanischen Princeton University zu der Frage, ob eine europäische Verfassung nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten möglich sei.
Europaparlament versus Europäischer Rat
Zu den Kritikpunkten am europäischen Projekt, die Habermas schon oft geäußert hat, gehört der Machtkampf zwischen Europaparlament und Europäischem Rat. Der Europäische Rat, so Habermas, verfolge die übliche nationale Machtpolitik. Seiner Meinung nach seien die Regierungschefs nicht willens, über den Tellerrand und in die ukunft zu schauen. Denn dazu gehört laut Habermas das Abtreten von Machtbefugnissen zu Gunsten des Europaparlaments. Die Abgeordneten des Europaparlaments seien schließlich gewählt worden, um die Interessen der EU-Bürger zu vertreten. Der Europäische Rat sollte dem endlich Geltung verschaffen, sagte Habermas.
Europa ist noch im Werden begriffen
Ein Thema, das gleichsam auf der Hand lag, waren die jüngsten Europawahlen, welche Habermas als die ersten Wahlen bezeichnete, bei denen es wirklich um Europa gegangen sei. Der Vormarsch der EU-kritischen Parteien, zeige, dass die europäischen Bürger noch nicht entschieden hätten, was für ein Europa sie eigentlich wollen, folglich sei das europäische Projekt noch im Werden begriffen, erklärte Habermas. „Noch sind wir nur auf dem Papier europäische Staatsbürger”, so der Philosoph. Er forderte die EU-Bürger auf, eine Doppelrolle einzunehmen: zum einen als Staatsbürger ihres Heimatlandes, zum anderen als bewusste EU-Bürger. Dies hieße, europäische Themen mehr in den öffentlichen Diskurs zu bringen, auch bei nationalen Entscheidungen eine europäische Perspektive beizubehalten und schließlich von einer kurzsichtigen, partikularen Nationalpolitik Abstand zu nehmen. Vor allem, so Habermas, brauche es aber gegenseitiges Vertrauen.
Keine Bevormundung durch Europa
Auf die Frage, ob die EU-Staaten unter supranationaler Bevormundung leiden würden, wiegelte Habermas ab. Diese Befürchtung, so der Philosoph, sei nur vorgeschoben. Die EU sei ein willkommener Sündenbock für Politiker, die selbst an den als “Bevormundung” erlebten Entscheidungen teilhätten. Auch den bürokratischen Moloch Brüssel entlarvte Habermas als Mythos. Zum Vergleich: Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 500 Millionen beschäftigt die Europäische Union insgesamt knapp 60.000 Beamte, während in Diensten der Stadt Hamburg alleine 75.000 Mitarbeiter stehen. Natürlich lasse sich die Verwaltung einer Stadt, die gleichzeitig Bundesland ist, nicht mit den Aufgaben vergleichen, die Brüssel zu bewältigen hat, aber der Vergleich zeige gut, wie viel dran ist am aufgeblähten Brüsseler Beamtenapparat. Auch sieht Habermas keinen wirklichen Grund für den Vorwurf der Bevormundung, da bisher vor allem der Europäische Rat, sprich das Gremium der Staats- und Regierungschefs, die Richtung vorgegeben habe.
Unwirsche Antworten auf blöde Fragen
Am 18. Juni wird Jürgen Habermas seinen 85. Geburtstag feiern. Grund genug, um ihm und seiner geistigen Fitness und Ausdauer Respekt zu zollen, schließlich stellte er sich bei der Pressekonferenz in Budapest zwei Stunden lang den Fragen der Journalisten. Mit Rücksicht auf sein Alter ließen die versammelten Journalisten Habermas auch die ein oder andere unwirsche Antwort durchgehen. Die ungarische Presse erhoffte sich viel vom deutschen Philosophen. Zuvorderst Antworten auf Fragen wie: Warum entfernt sich Ungarn von Europa? Warum steckt der Liberalismus in Ungarn in der Krise? Was kann getan werden gegen das fehlende Interesse an der Europäischen Union? Doch diesen Heilserwartungen erteilte Habermas prompt eine brüske Abfuhr. „Warum fragen Sie da mich?“, fragte der Honorarprofessor die Journalisten zurück, „das müssen doch Sie wissen. Ich bin doch nur für drei Tage hier.“
Jürgen Habermas (*18. Juni 1929)
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas studierte in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Habermas promovierte in Bonn mit seiner Arbeit „Das Absolute in der Geschichte. Eine Untersuchung zu Schellings Weltalterphilosophie“. 1961 habilitierte er in Marburg und wurde daraufhin Professor für Philosophe in Heidelberg. Das erste seiner zwei Hauptwerke, „Theorie des kommunikativen Handelns“, veröffentlichte er 1981, sein zweites Hauptwerk „Faktizität und Geltung“ erschien 1992. Habermas gilt als Begründer der Diskursethik, eine besondere Form der Ethik, bei der im Gespräch die Argumente berücksichtigt werden und in das Handeln einfließen.