
„Auch ich bin unzufrieden und zornig über den Zustand, in dem sich die europäischen Institutionen befinden(…) Was wir dringend brauchen, ist eine europäische Regierung, die parlamentarisch gewählt und kontrolliert wird. (…) Europa wird demokratisch sein, oder es wird scheitern.” Martin Schulz, Zitate aus dem besprochenen Buch
„Europe bashing“ ist derzeit ein beliebter Sport. Mit antieuropäischem Populismus lassen sich nicht nur in Ungarn Wahlen gewinnen. Aber es gibt auch den umgekehrten Effekt: Martin Schulz, amtierender Präsident des Europäischen Parlaments und hoffnungsvoller Kandidat für die Position des Kommissionspräsidenten, erzeugt den Integrationssog selbst, der ihn in das höchste Amt führen soll.
Dr. Marc-Tell Madl
Es ist die wichtigste Rolle in Europa, und Martin Schulz rechnet sich gute Chancen aus, diese Rolle auch zu bekommen. Es kann keinem Mitgliedstaat der Union egal sein, wer neuer Präsident der Kommission wird. Angesichts der Fülle der Konflikte Ungarns mit der EU gilt dies hier umso mehr. Es drängt sich daher auf zu fragen, wie Schulz das neue Amt inhaltlich ausfüllen will, und – vor allem – wie sein Verhältnis zu Ungarn aussieht. Sein jetzt erschienenes Buch „Der gefesselte Riese – Europas letzte Chance“ gibt hierauf einige klare Antworten.
Es ist Wahlkampf
Was der Leser bekommt, ist inhaltliche Auseinandersetzung, Programm und, ja, eine Wahlkampfrede. Das Buch will eine „Skizze“ sein und sich nicht an Experten wenden. Der Vorteil dieser Herangehensweise ist eine klare Sprache, wenn auch manche Sätze etwas domestiziert wirken. Schulz kommt zum Punkt. Noch nie war die Europäische Union so umstritten. Nach fünf Jahren Krise gilt sie vielen als Auslaufmodell, als Inbegriff ausufernder Bürokratie, als Wohlstandsgrab. Der Euro steht auf dem Spiel, deutsche Zeitungen lästern über die „Pleite-Griechen“, während im Süden das Bild vom hässlichen Deutschen wiederauflebt. Erstmals besteht die reale Möglichkeit, dass das Projekt Europa scheitert. Aber welche Folgen hätte ein Ende des Euro oder gar der Union? Die Szenarien des Autoren verfehlen nicht ihre Wirkung: Der europäische Binnenmarkt könnte zerfallen, die Arbeitslosigkeit weiter steigen, Europas Staaten wären den USA oder Schwellenländern wie China hoffnungslos unterlegen, während von innen ein neuer Rechtspopulismus droht.
Bitte einmal Alles!
Die durchgängige Antwort von Schulz auf all diese Herausforderungen lautet „mehr Integration“. Das überrascht den Leser natürlich nicht. Interessant ist aber, wie klar er diese Vision zeichnet. Er erkennt die demokratischen Defizite der Union und plädiert für ein Mehrkammermodell. Der Ministerrat und der Europäische Rat sollten entmachtet, das Parlament gestärkt werden. Er plädiert für ein starkes Europa, dessen soziale Gerechtigkeit weiterhin weltweit als Vorbild gelten kann. „Nur wenn wir unsere Errungenschaften selbstbewusst verteidigen, können wir unseren Wohlstand sichern und unseren Kontinent vor der Bedeutungslosigkeit bewahren“.
Hierfür müssten alle Mitgliedstaaten noch mehr zusammenrücken, und die Kompetenzen der Union sollten noch mehr Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft erfassen. Dabei kommt das Wort Subsidiarität zwar auch vor, aber es wirkt eher wie ein Lippenbekenntnis. Der Autor denkt und lebt Europa, für ihn ist allein die Integration aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen ein Ausweg aus der gegenwärtigen Sinnkrise der Union.
Zwar erkennt er, dass nationale Interessen diesem Prozess entgegen arbeiten und wie schwierig es ist, ohne wirkliche europäische Öffentlichkeit, also auch grenzüberschreitende Diskussionskultur, Demokratie zu leben, aber tief reflektiert wird diese Kritik nicht. In faszinierender Weise ist das Buch dann auch ein Beispiel für das Denken der EU und ihrer Eliten: Wer von sehr weit oben auf die Dinge schaut, verliert den Blick für Unterschiede und Differenzierung. Mehr Integration ist der einzige Weg, aber keiner will die Vereinheitlichung aller Lebensumstände. Vor allem wollen die Mitgliedstaaten keine Bevormundung und Schulmeisterei.
Ich nehme meine Vorurteile ernst
Schulz verheimlicht dem Leser nicht, dass er sich die Briten auch außerhalb der Union vorstellen kann, und auch Berlusconi mag er nicht besonders. Fehlen nur noch die Ungarn. Seine Kommentare illustrieren, wie wenig er vom Land versteht und wie falsch der Einfluss der Union eingeschätzt werden kann: Ungarn darf in „Der gefesselte Riese“ immer dann herhalten, wenn der Autor betonen will, wie heilsam der positive Einfluss der Union auf demokratische Prozesse ist. Der Autor behauptet, nur durch den Druck der EU sei die neue ungarische Verfassung endlich mit dem „europäischen Wertekonsens“ vereinbar. Das ungarische Mediengesetz ist für ihn das Beispiel für besorgniserregende antidemokratische Tendenzen nationaler Regierungen. Er belächelt das Bemühen kleinerer Mitgliedstaaten – auch hier ist Ungarn gemeint -, mit Mächten wie China strategische Partnerschaften einzugehen.
Mir zeigt das einmal mehr, vorantreiben der Integration ist gut, aber je weiter sich Einschätzungen und Entscheidungen vom Gegenstand der Betrachtung entfernen, desto undifferenzierter werden sie. Ab einen gewissen Punkt werden sie falsch. Martin Schulz hat ein wichtiges Buch vorgelegt, seine Vision kann begeistern. Eher ungewollt illustriert der Autor aber auch, wie die Eigendynamik der Integration Bodenhaftung verlieren lässt… you get carried away.
Der Autor ist deutscher und ungarischer Rechtsanwalt und Gesellschafter der EastNexo Consulting.
Martin Schulz
Der gefesselte Riese
Europas letzte Chance
Berlin 2013