
Mit seinen gefälschten Linoliumstempeln konnte der junge Budapester Endre Káldori zahlreichen Juden das Leben retten. (Foto: VWI)
Das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI), an dessen Konzept der 2005
verstorbene Simon Wiesenthal noch persönlich beteiligt war und das sich mit der Erforschung,
Dokumentation und Vermittlung von den Antisemitismus, Rassismus und Holocaust betreffenden Fragen auseinandersetzt, hat anlässlich des 70. Jahrestages des Massenmordes an ungarischen Juden einen Abend unter dem Titel “Nur eine Quelle… Im Gedenken an den ungarischen Holocaust“ veranstaltet.
Am 16. April 1944 begannen die ungarischen Behörden, die bereits entrechteten Juden in Ghettos zu sperren. 437.000 Menschen wurden in 170 Ghettos zusammengepfercht, die Mehrheit wurde bis Juli 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nach dem 15. Oktober 1944, der Machtübernahme der Pfeilkreuzler, wurden die Deportationen wieder aufgenommen. In den Monaten November und Dezember des Jahres 1944 trieben ungarische und deutsche bewaffnete Einheiten 50.000 Zwangsarbeiter in Todesmärschen in das heutige Österreich. Die in Budapest verbliebenen Juden wurden in ein Ghetto gesperrt, Tausende wurden erschossen. Die Überlebenden des Ghettos wurden im Januar 1945, jene der Konzentrationslager im Mai 1945 von den Alliierten befreit.
Genau sieben Jahrzehnte später fand im „Semperdepot“, dem Ateliergebäude der Akademie der Bildenden Künste in der Wiener Lehárgasse, ein von Béla Rásky, Historiker und Geschäftsführer des VWI, und Éva Kovács, Soziologin an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Forschungskoordinatorin am VWI, konzipiertes und in Kooperation mit Wissenschaftlern aus Ungarn, Österreich und Israel realisiertes Programm statt. Anhand einzelner Quellen wie einem Artikel, einem Objekt, einem Protokoll, einem Brief, einem Foto, einer Zeugenaussage oder einem Interview wurden die Schicksale einiger der Opfer der ungarischen Shoah dokumentiert.
Rettung per Stempel
Nach einer geschichtlichen Einführung durch den an der Universität Klagenfurt lehrenden Historiker Dieter Pohl präsentierte Ferenc Laczó, Historiker am Imre-Kertész-Kolleg in Jena, einen in der letzten Nummer der Jüdischen Zeitschrift Libanon Ende 1943 erschienenen Artikel, „Jahresbericht der Direktion des Jüdischen Landesmuseums 1942/43“. Die Autoren des Beitrages stellten darin den Anspruch, einerseits den Holocaust dokumentieren und andererseits die jüdische Kultur retten zu wollen. Dabei nahmen sie „mit ihrem Wissen über en Holocaust und dessen Folgen bereits im Jahr 1943 das letzte, das ungarische Kapitel des Holocaust, vorweg“.
András Szécsényi vom Holocaust-Gedenkzentrum Budapest schilderte anhand eines Objektes den mutigen Einsatz von Endre Káldori, der mit den von ihm aus Linoleum hergestellten Stempeln und gefälschten Papieren etliche Menschen vor der Deportation retten konnte. Ein anlässlich einer im Mai 1944 im Rathaus von Debrecen abgehaltenen Sitzung der Stadtverwaltung verfasstes Protokoll wurde von Regina Fritz, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, und László Csősz, Holocaust-Gedenkzentrum Budapest, analysiert. Auf der Tagungsordnung stand damals die Abwicklung der Ghettosierung der jüdischen Bevölkerung, das Dokument gibt dabei einen Überblick über die Ziele und die inneren Konflikte der am Massenmord beteiligten ungarischen Behörden. Ende Juni 1944 wurden über 10.000 Menschen aus Debrecen nach Auschwitz-Birkenau und andere Lager deportiert.
Vom Gejagten zum Jäger
Ausgehend von einem Brief des Direktors des Ernst Museums, Béla Lázár, vom Mai 1945 schilderte der Historiker István Pál Ádám, Junior Fellow am VWI, die Rolle von Hausmeistern, die vielerorts über die Existenz ihrer jüdischen Mitbürger mitentscheiden konnten. Kinga Frojimovics, Historikerin und Archivarin des Yad Vashem in Jerusalem, illustrierte am Beispiel eines Akkreditierungsschreiben den Karriereaufstieg von Baron György Ettingshausen (nach dem „Anschluss“ Österreichs Präsident der Rechtsanwaltskammer in Wien und Rechtsberater der ungarischen Botschaft) bei denen in Kooperation zwischen ungarischen und deutschen Behörden durchgesetzten, Juden diskriminierenden Maßnahmen und deren Folgen. Zsolt K. Horváth von der ELTE in Budapest rekonstruierte ausgehend von der inszenierten Aufnahme eines fröhlich lächelnden jungen Mannes die Geschichte des Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Ferenc Mérei, der infolge antisemitischer Gesetze gekündigt und zur Zwangsarbeit berufen wurde. Nachdem ihm 1944 die Flucht gelang, schloss er sich der Roten Armee an – aus dem passiven Opfer politischer Willkür wurde ein aktiver Teilnehmer im Kampf gegen das NS-Regime. Basierend auf einem Zeugenprotokoll vermittelte die Historikerin Rita Horváth die erschütternde Odyssee eines 1930 geborenen Jungen durch einige Konzentrationslager, dessen in nüchternem Ton erzählte Aussagen in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgezeichnet wurden.
Die Präsentation ausgewählter Quellen und Objekte, die in einer kleinen Ausstellung besichtigt werden konnten, wurde mit einem von Éva Kovács aufgenommenen Interview mit einem Holocaust-Überlebenden („Onkel Andor Bácsis Zwirnspule“) abgeschlossen. Die Veranstaltung ging schließlich mit einer zweisprachigen Lesung aus Béla Zsolts Werk „Neun Koffer“ zu Ende, in dem er seine Erlebnisse im Ghetto schildert. Vorgetragen wurde diese von der Schauspielerin Emese Fáy.