Am 19. März jährt sich die Besetzung Ungarns durch Nazi-Deutschland zum 70. Mal. Ursprünglich hatte die Regierung geplant, ein Denkmal zum Gedenken an den Einmarsch der deutschen Truppen vor 70 Jahren aufzustellen. Angesichts des heftigen gesellschaftlichen Protests, den die inhaltlich fragwürdigen Pläne zum Denkmal hervorgerufen hatten (Stichwort: Ungarn in der Opferrolle), wurde die Aufstellung des Denkmals von der Regierung vorerst auf Mai verschoben. Lesen Sie im Folgenden einen Aufsatz des namhaften Historikers Krisztián Ungváry zu den Ereignissen vor sieben Dekaden:
Die Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht wird im neuen Grundgesetz als entscheidender Wendepunkt in der ungarischen Geschichte genannt. Gemäß der Präambel des Grundgesetzes verlor Ungarn damals seine Souveränität.
Leider wurde es in den Jahren 2010 und 2011 versäumt, eine gesellschaftliche Diskussion über das Grundgesetz und seine Präambel anzustoßen. Historiker sind erst recht nicht zu Rate gezogen worden. Das ist insofern
bedauerlich, als dieses Datum in der Geschichtswissenschaft wesentlich differenzierter gesehen wird: Neben den tatsächlichen und gravierenden Veränderungen nach der Besetzung des Landes werden auch die ontinuitäten herausgestellt, besaß doch Ungarn in manchen Fragen auch nach der deutschen Besetzung einen andlungsspielraum.
Ungarn für Hitler strategisch wichtig
Die Gründe für die Besetzung des Landes sind sowohl n den militärischen Ereignissen als auch in der mangelnden Kriegsbereitschaft Ungarns zu suchen. Anfang 1944 spitzte sich die militärische Situation an der ungarischen Ostgrenze immer mehr zu: Die sowjetische Winteroffensive ging erfolgreich voran, Ende Februar betrug die Frontlücke vor der ungarischen Grenze bereits 150–200 Kilometer. Hitler wollte die ungarischen Unwägbarkeiten nicht länger hinnehmen, deshalb befahl er am 28. Februar Vorbereitungen zur Besetzung des Landes. Weder die ungelöste „Judenfrage” noch der mangelnde militärische Beitrag im Rahmen der gemeinsamen Kriegsführung wären für diesen Schritt ausreichend gewesen. Ungarn war für Hitler aus strategischer Sicht wichtig und unentbehrlich. Der wankende Verbündete und die kritische Frontlage zusammen bedeuteten für ihn erst ein untragbares Risiko.
Nach dem Schock, den die Ereignisse vom Sturz Mussolinis im Sommer 1943 in Italien hervorgerufen hatten, entschied Hitler schon im September 1943, einen Plan für die Besetzung Ungarns (Margarete–I) auszuarbeiten. Das Oberkommando der Wehrmacht erstellte diesen Plan bis zum 30. September, wobei man in der ursprünglichen Version noch mit der Beteiligung der rumänischen und slowakischen Armee rechnete. Der Plan wurde allerdings mehrfach geändert. Zwar gingen die deutschen Militärstrategen davon aus, dass sich die ungarische Armee selbst bei einer Besetzung Ungarns der Wehrmacht gegenüber loyal verhalten würde. Dennoch wurde befohlen, „jeden Widerstand rücksichtslos zu brechen“. Allem Anschein nach wäre bei Widerstand das Vorgehen der Wehrmacht ähnlich gewesen wie gegenüber der italienischen Armee: So wurde angeordnet, dass Offiziere, die sich gegen ihre Entwaffnung wehren sollten, „im Kampf“ zu erschießen seien.
Ablösung Horthys als Option
Der deutsche Sonderbeauftragte Edmund Veesenmayer besuchte Budapest im Frühjahr und im Herbst 1943 als „Privatmann“ und führte mehrere Verhandlungen mit der rechten Opposition. Er gewann den Eindruck, dass die politische Führung in Ungarn mehrheitlich wohl zur Kollaboration bzw. Kooperation mit dem Reich bereit sei. Einen Austausch der politischen Führung um Horthy (von ihm abfällig als „Burgclique“ bezeichnet) hielt er für ausreichend. Deshalb schlug er anstelle einer „rein deutschen Machtlösung“ eine „Evolutionslösung“ vor: Die Besetzung sollte sozusagen „kooperativ“ geschehen: Reichsverweser Miklós Horthy sollte an seinem Platz belassen und eine Koalitionsregierung aus Regierungspartei und rechter Opposition gebildet werden. Veesenmayers Standpunkt teilten auch hohe Militärs, darunter Generalfeldmarschall Maximilian Freiherr von Weichs oder der deutsche Gesandte in Budapest, Dietrich von Jagow, sowie der Chef des Auslands–SD, Walter Schellenberg. Im Großen und Ganzen war das Gros der deutschen Entscheidungsträger von der Kollaborationsbereitschaft der Ungarn überzeugt.
Widerstand Horthys währte nicht lange
Um die „Evolutionslösung“ verwirklichen zu können, musste zuerst Horthy umgestimmt werden. Am 15. März 1944 erhielt er eine Einladung des Führers nach Klessheim (18. März). Der unvorbereitete Horthy war von Hitlers Vorwürfen in Klessheim schockiert. Als er in Hinblick auf die Besetzung Ungarns vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, drohte er bereits bei der ersten Besprechung mit dem sofortigen Abbruch der Verhandlungen. Nach Vermittlung durch Generalstabschef Ferenc Szombathelyi gab er seinen Widerstand jedoch auf. Zwei weitere Besprechungen folgten. Letzten Endes erklärte sich Horthy mit der Besetzung des Landes und der Ablösung der Kállay-Regierung einverstanden. Eine schriftliche Vereinbarung wurde nicht getroffen. Schon im Zug nach Budapest wurde Horthy der „Gesandte und Reichsbevollmächtigte“ Veesenmayer vorgestellt, der ihn zu überreden versuchte, den früheren Ministerpräsidenten Béla Imrédy neuerlich zu ernennen. Horthy war aber weder dazu, noch zur Ernennung des anderen deutschen Favoriten, Generaloberst Jenő Ruszkay, bereit. Am 20. März schlug er deshalb als Kompromisskandidaten Döme Sztójay vor, der von 1925 an im diplomatischen Dienst (zuletzt als Botschafter) in Berlin gewesen war. Dieser Vorschlag wurde angenommen, da Sztójay auch für Veesenmayer akzeptabel war.
„Alles war auf Kooperation ausgerichtet“
Die mit begrenzten militärischen Kräften durchgeführte Besetzung des Landes ging ohne Schwierigkeiten vor sich. Auf die Entwaffnung der Ungarn wurde verzichtet, die Einheiten der ungarischen Armee blieben in ihren Kasernen. Mit den deutschen Truppen rückten auch die Einsatzgruppe G und das ihr untergeordnete Sonderkommando Eichmann in Ungarn ein. Der Einsatzgruppe war es verboten, den Handlungsbereich der ungarischen Polizei und Gendarmerie zu verletzen — im Gegenteil, alles war auf eine Kooperation ausgerichtet. Da das ganze Sonderkommando Eichmann aus 60–80 Personen inklusive Sachbearbeitern, Sekretärinnen und Autofahrern bestand, erschien diese Mitarbeit auch unerlässlich für das Gelingen der gestellten Aufgaben. Gewiss wollte Hitler die „Judenfrage“ in Ungarn „lösen“, aber die Erfahrungen in Frankreich, wo es der deutschen Besatzung auch in vier Jahren nicht gelungen war, die Mehrheit der französischen Juden zu deportieren, zeigten, dass diese Erwartungen nicht unbedingt erfüllbar waren. Die umfassende Beteiligung der ungarischen Behörden war eine unabdingbare Voraussetzung für die Pläne zu den Deportierungen.
Die unerlässliche Kooperation zwischen Gestapo und ungarischer Polizei funktionierte von Anfang an. Seite an Seite erhafteten deutsche und ungarische Sicherheitskräfte schon in den ersten Stunden der Besatzung mehrere Tausend politische Gegner und Juden. Der Chef der Budapester Gestapo, Adolf Trenker, war von den Ergebnissen allerdings enttäuscht. Er klagte später, dass seine Behörde ohne die ungarische Sicherheitspolizei praktisch nichts hätte tun können. Hier war also eine nahtlose Kollaboration schon von der ersten Minute an vorhanden. Erst mit der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht am 19. März 1944 konnten die bereits seit Jahren propagierten Umverteilungsmaßnahmen der jüdischen Vermögen in Ungarn vollständig eingeleitet werden. Es ist hierbei zu bemerken, dass diese Maßnahmen dem Ruf der deutschen Besatzung innenpolitisch keineswegs schadeten: Ganz im Gegenteil, sie wirkten als stabilisierendes Element. Die rasch eingeleiteten antisemitischen Maßnahmen trugen dazu bei, dass das Ausharren an der Seite Deutschlands für viele Ungarn dadurch erträglich oder gar sinnvoll gemacht wurde. Das beschlagnahmte jüdische Vermögen bot die Möglichkeit zur vorübergehenden Sanierung des ungarischen Staatshaushaltes und zur Erfüllung der wirtschaftlichen Forderungen Deutschlands.
Kein „gutes Ungarn“, „böses Deutschland“
Trotz vieler Entlassungen auf höherer Ebene waren in der ungarischen Verwaltung Hunderttausende Beamte bereit, ihre Mitbürger auszusondern und ihr Hab und Gut zu inventarisieren. Weitere Hunderttausende waren zudem bereit, sich die durch die Deportierungen herrenlos gewordenen Gegenstände anzueignen.
Schon die innenpolitische Entwicklung zeigt, dass von einem totalen Souveränitätsverlust nicht die Rede sein kann. Am 22. März 1944 wurde eine Koalitionsregierung gebildet, sie sich aus der Regierungspartei, der rechtsradikalen Imrédy-Partei und den ungarischen Nationalsozialisten zusammensetzte. Mehrere Minister der früheren Kállay-Regierung, darunter Finanzminister Reményi- Schneller und Landwirtschaftsminister Jurcsek, wurden übernommen. Die Pfeilkreuzler von Ferenc Szálasi hielten sich von der Regierung fern, die sie als „schein- nationalsozialistisch” kritisierten. Szálasi verbot den Parteimitgliedern wiederholt jegliche Mitwirkung bei der Arisierung des jüdischen Vermögens. Die Deportierung der „wertvollen Arbeitskräfte” bezeichnete er als eine „Verschenkung wertvoller Arbeitsstunden“ an Deutschland und plädierte dafür, die Juden lieber in Ungarn „arbeiten oder sterben” zu lassen. Bei der Deportierung und Ausplünderung der Juden spielten also gerade die radikalsten politischen Kräfte keine Rolle.
Von der deutschen Forschung wird die Frage nach der Motivation zu den Deportationen der ungarischen Juden zumeist mit ideologischen (und zum Teil mit wirtschaftlichen) Gründen beantwortet, und immer nur aus der deutschen Perspektive betrachtet. Dabei wird aber stets übersehen, dass die deutschen Besatzer eigentlich keine Wahl hatten: Da die Kollaboration Ungarns mit den Besetzern von vornherein als grundsätzliche Bedingung einkalkuliert war, mussten Maßnahmen getroffen werden, um die Kooperationsbereitschaft der ungarischen Eliten und der ungarischen Gesellschaft zu stärken. Allein: Alle Parteien, die zur Kollaboration bereit waren, hatten bereits von 1939 an die totale Lösung der Judenfrage gefordert. In dieser Angelegenheit gab es zwischen Pfeilkreuzlern, Nationalsozialisten, der Imrédy- Partei und der Mehrheit der Regierungspartei kaum Unterschiede. Unter den wichtigsten Politikern widersetzte sich nur ein kleiner Kreis um Horthy, Bethlen und Kállay diesen Strömungen. Kállay konnte solchen Forderungen bis März 1944 nur durch die Vertagung des Parlaments Einhalt gebieten. Durch die Verteilung des jüdischen Vermögens an die Ungarn konnte nicht nur die Kollaborationsbereitschaft der Bevölkerung gesichert, sondern auch der ungarische Staatshaushalt stabilisiert werden, der aufgrund der Kriegsausgaben instabil geworden war. Angesichts dieser Tatsachen ist es völlig abwegig, die deutsch-ungarischen Verhältnisse dieser Zeit als einen Kampf zwischen den „guten“ Ungarn und den „bösen“ Deutschen darzustellen.
Krisztián Ungváry