Die zeitgenössische ungarische Oper „Spiritiszta / Spiritisti“ von György Selmeczi, inszeniert in einer Traumlandschaft im Russland Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde kürzlich im Ungarischen Nationaltheater uraufgeführt. Ein Rückblick.
Durch seine neue Oper möchte Selmeczi die “unendliche Kraft der Frauen im Kontrast zwischen dem russischen Temperament des Ostens und dem mediterranen Temperament des Westens und die Unvermeidbarkeit von Tragödien“ erkunden. Die Essenz von Strindbergs „Ein Traumspiel“ einfangend und von der Musik Puccinis, Verdis und den Elementen Korngolds inspiriert, ist Spiritisti ein Rückwurf in ein anderes Zeitalter. Die einzigen zeitgenössischen Elemente dieser Oper finden sich jedoch in der abstrakten Symbolik der schemenhaften Storyline. Eine traumartige Sequenz eröffnet die Vorstellung mit einer Mischung aus unbeschwerter Operette, Vaudeville und Outtakes von Puccini. Die männlichen Charaktere führen eine Séance mit dem russischen Herzog durch und beschwören dabei den Geist der „Frau“ herauf, verkörpert von Sopranistin Polina Pasztircsák als Colombina, der einzigen weiblichen Rolle in der Oper.
Von Traviata bis Tschechow
Nach einer Reihe Spezialeffekte, die ein weibliches Bild begleitet von Stroboskoplicht über die Bühne huschen lassen, taucht plötzlich ein weiteres Orchester in der Bühnenmitte auf, während Tänzer den Ball eröffnen – eine Oper in der Oper. Mitten drin ist auch die Hauptbesetzung, deren Gros die Commedia dell‘arte nachempfinden. Die Inszenierung ist effizient, fängt sie doch die traumhaften Elemente, die im Mittelpunkt des Opernkonzepts stehen, mit einem Schuss deplazierten Realismus‘ ein. Visuell ist die Produktion überwältigend, sie porträtiert die Traumwelt jedoch inkonsequent. Nie ist klar, was wahr und was Fantasie ist oder welcher Charakter gerade die Erzählperspektive innehat. Die Szene ist die Rückblende in eine andere Ära, als Colombina noch mit Pierrot verlobt ist, bevor sie dem romantischen Bann Arlecchinos erliegt – nur um den Akt in den Armen des russischen Herzogs zu beenden. Colombina ist kein einzeln entwickelter Charakter – vielmehr ist sie als verallgemeinernde Trope angelegt, die alle Frauen symbolisieren soll. Der erste Akt vermischt an La Traviata erinnernde Szenen mit Tschechow-esken Charakteren, wobei russischer Volkstanz und die gelegentliche komische Erleichterung in der Manier eines Peepshow-Puppentheaters nicht fehlen dürfen. Der zweite Akt fährt mit dem Ball im Palast fort, und es wird klar, dass die komplette Oper als eine kontinuierliche Szene betrachtet werden kann, die sich einerseits durch die reale und andererseits durch die symbolische, „spiritistische“ Welt schlängelt. In einer der Szenen bittet der Herzog die Darsteller, wiederum gespielt von Colombina, Pierrot und Arlecchino, das Ende doch noch einmal neu zu entwerfen und zu seiner Freude mit etwas Fröhlichem zu enden. Die Darsteller verpassen der Oper eine schwungvolle Klimax, doch die Freude währt nur kurz, als Desiré, ein desillusionierter Poet, der eine Figur Dostojewskis sein könnte, gequält von seiner Liebe für Colombina das Objekt seiner Begierde im Publikum erschießt – eine Übertragung der zweiten Hälfte des Stücks in eine dekonstruierte und rekonstruierte Neuauflage von Pagliacci. Die vom Herzog und Desiré gespielten Figuren werden alleingelassen, um Colombina zu betrauern, welche wiederum mehr eine Allegorie ihrer verlorenen Hoffnung denn eine reale Frau ist.
Leider keine moderne Reflexion
Der Zyklus beginnt von Neuem, als die Spiritisten sich einmal aufs Neue versammeln, um sich einer weiteren Séance hinzugeben, was eine Endlosschleife erzeugt, in der die Charaktere ihre Sünden, Leidenschaften und Eifersüchte durchleben. Während Spiritisti die zerstörende Kraft von Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft aus der männlichen Perspektive diskutieren möchte, kommt die Oper wie ein nostalgisches Potpourri aus Stücken aus dem 19. Jahrhundert daher, ohne dabei die moderne Zeit höhergradig zu reflektieren. Nichts an Spiritisti zeigt aktuellen Zeitgeist, und auch das moderne Publikum wurde beim Schreiben der Oper nicht bedacht.
Verschiedene Einflüsse ohne Konzept
Die Musik hört sich von anderen Komponisten geborgt an, ahmt sie doch die surreale Welt der Toten Stadt Korngolds und die Arien Puccinis nach, ohne jedoch einer bestimmten Erzählung zu folgen. Wenn man bedenkt, dass die Oper eine ungarische Komposition ist und in Russland spielen soll, so fühlt sich der Einsatz des italienischen Librettos deplatziert an, wobei auch das Motiv nicht erläutert wird. Womöglich beabsichtigt Spiritisti, das Mysterium angesichts der Inhalte von Opern und ihre scheinbar allegorische Handlung auf die Schippe zu nehmen – oder sich selbst daran zu versuchen. Die Produktion selbst ist großzügig, und die Besetzung verdient großen Beifall. Bariton Krisztián Cser in seiner Darstellung als der Herzog war herausragend, und Sopranistin Polina Pasztircsák bestach auf der Bühne in ihrer Rolle der Colombina mit einer enigmatischen Bühnenpräsenz und einer klaren, gefühlvollen Stimme. Spiritisti ist eine moderne Oper, die sich gegen die üblichen Avantgarde-Produktionen der Gegenwart wehren möchte. Es ist ein sicheres, konservatives Stück, das weder schockieren noch beleidigen wird. Doch seine Ideen wurden bereits vor über einem Jahrhundert durch andere künstlerische Medien ausgedrückt.
Jennifer Walker
Spiritiszták / Spiritisti
Ungarische Nationaloper
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Tel.: +36 1 / 814-7100
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