Am Montagnachmittag startete im Holocaust-Gedenkzentrum (HDKE) eine Gedenkveranstaltung und Konferenz mit dem Titel „Ungarn im Schatten der Tragödie“. Bereits im Vorfeld hatten einige Referenten aufgrund des Umgangs der Regierung mit der Verantwortung Ungarns im Zweiten Weltkrieg (Stichworte: Grundgesetz-Absatz und Denkmal zur NS-Besetzung) ihre Teilnahme abgesagt, der amerikanische Holocaust-Experte Prof. Randolph L. Braham gab gestern aus Protest sogar seinen ungarischen Verdienstorden zurück. Bei der Eröffnung der Konferenz kam es zu einem weiteren Eklat, als ein Mann das Podium stürmte.
Bereits der Beginn der Eröffnungsveranstaltung am offiziellen Tag der Befreiung von Auschwitz glückte nicht ganz so, wie es sich die Regierung vermutlich erhofft hatte: Premier Viktor Orbán, unter dessen erster Regierung (1998-2002) der Holocaust-Gedenktag in Ungarn (seit 2001 am 16. April) ins Leben gerufen worden war, glänzte durch Abwesenheit. Stattdessen wurde sein Grußwort vom Vorsitzenden des HDKE-Stiftungskuratoriums, György Haraszti, vorgetragen. In diesem sagte Orbán, dass der Holocaust in Ungarn sich gegen ganz Ungarn, ja die ganze Menschheit und nicht nur das ungarische Judentum gerichtet habe. Seine Regierung habe seitdem gesetzlich sicher gestellt, dass niemand aufgrund seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit verfolgt werden könne, ohne dafür bestraft zu werden. Weder auf den problematischen Absatz im Grundgesetz, laut dem Ungarn 1944 seine Selbstbestimmung an die deutschen Besatzer verlor, noch zum entsprechenden Denkmal, bei dem laut Kritikern alle Opfer „in einen Topf geworfen“ werden, ging der aus Balatonszárszó versendete Brief ein. Obwohl sich wohl nicht nur die im Gedenkzentrum Anwesenden – darunter stellvertretend für die deutsche Botschaft ihr Gesandter Klaus Riedl – einige erklärende Worte erhofft hatten. So reagierten auch einzelne Gäste auf den schwachen Applaus, der auf die Grußworte folgte, mit Unmutsbekundungen wie „Was gibt es da zu applaudieren? Eine Schande, dass er [Orbán] nicht persönlich hier ist.“
Und auch der nächste Redner, der Staatsekretär im Justizministerium, Bence Rétváry, konnte nicht restlos überzeugen: Eingangs gab er zu, in seiner Kindheit nur Teile der Geschichte des ungarischen Holocausts gekannt zu haben, etwa als seine Eltern ihm von Nachbarn oder Bekannten erzählten, die damals „plötzlich verschwanden“. Er habe anfangs nur Wissen aus Filmen gehabt, später sei er im Haus des Terrors einem damaligen Tatort näher gekommen [das dortige Museum erinnert als Gedenkstätte an das totalitäre Regime unter den ungarischen Pfeilkreuzlern, aber vornehmlich an das unter den Kommunisten; Anm.] und erst bei Besuchen in Jerusalem beziehungsweise Auschwitz habe er die Bedeutung der Ereignisse für das Judentum erkannt. „Der ungarische Holocaust warf seinen Schatten auf ganz Europa“, so Rétváry, „und obwohl Auschwitz mehrere 100 Kilometer entfernt liegt, ist uns seine Geschichte ganz nah, die Geschichte der damaligen Opfer ist auch unsere Geschichte.“ Im Gegensatz zu Westeuropa, wo man direkt nach dem Zweiten Weltkrieg mit dessen Aufarbeitung begann, könne man in Ungarn erst seit 25 Jahren offen über die Massenvernichtung der Juden sprechen, daher habe man noch viel aufzuholen. Es folgten weitere Bekundungen, dass es eine Tragödie sei, dass Ungarn auf Ungarn schossen und dass die Shoa nicht nur Sache der Juden, sondern ganz Ungarns sei.
Demonstrant kritisiert Regierung offen
Nach Rétvárys Worten stürmte plötzlich ein junger Mann auf die Bühne, der die Regierung Orbán für den umstrittenen Denkmalsentwurf offen kritisierte und forderte, dass „die Regierung endlich Farbe bekennen“, das heißt Ungarns Mittäterschaft am Holocaust eingestehen solle. „Die ungarische Regierung will ein geschichtsverfälschendes Denkmal aufstellen, das im Widerspruch zu allen Erkenntnissen steht, die von Historikern in Bezug auf den Holocaust in Ungarn formuliert wurden“, sagte er. Mit dem Grundgesetz-Absatz und dem Denkmalsentwurf versuche man nur, alle Verantwortung auf andere abzuwälzen, sagte er, woraufhin der Staatsekretär sichtlich in Bedrängnis geriet und nur den offiziellen Standpunkt der Regierung wiederholen konnte, wonach der Denkmalsentwurf auf historischen Tatsachen beruhe und man mit diesem allen Opfern gedenken wolle. Der Mann wurde danach des Podiums verwiesen. Einige Anwesende applaudierten ihm, andere fragten sich, wer das sei und mit welchem Recht er das Wort ergriffen habe. Der Moderator verbat sich erbost jede tagespolitische Einmischung, das sei „den damaligen Opfern gegenüber unwürdig.“
Nach seinem Rauswurf stellte sich der junge Demonstrant gegenüber der Budapester Zeitung als Márton Gulyás vor. Er sei als Privatperson und nicht als Vertreter irgendeiner Organisation aufgetreten, sagte er auf unsere Nachfrage, bevor er auch das HDKE-Gelände verlassen musste. Außerhalb von diesem wechselte er noch einige Worte mit der Direktorin des Haus des Terrors, Mária Schmidt, die den Denkmalsentwurf offen unterstützt und Gulyás aufgrund seiner Kritik zurechtwies. Erst später stellte sich heraus, dass Gulyás Leiter der regierungskritischen Theatergruppe „Krétakör“ („Kreidekreis“) ist.
Daniel Hirsch