„Ohne Zorn und Eifer“ von Ereignissen und Personen in seinen Annalen zu berichten, das nahm sich der römische Geschichtsschreiber Tacitus vor, und nach dieser Maxime bemühte sich auch der Historiker Krisztián Ungváry das Horthy-Regime auf die Waagschale zu legen. Die Kapazität der Aula der Deutschen Schule Budapest wurde dabei leider nicht ausgenutzt, als am vergangenen Donnerstag der Erste deutschsprachige Lionsclub Budapest Thomas Mann zum Vortragsabend mit Dr. Krisztián Ungváry einlud. Dabei hätte das Einzugsgebiet genügend Potential dafür geboten. Einige könnten jedoch gefürchtet haben, die ein oder andere unliebsame Wahrheit zu hören, denn der Titel des Vortrags lautete: „Das Horthy-System auf der Waagschale – Diskriminierung, Antisemitismus und Sozialpolitik 1920-1944.“
Miklós Horthy, der in diesem Zeitraum Reichsverweser und damit Staatsoberhaupt des Königreichs Ungarn war, ist eine der umstrittensten Figuren der ungarischen Geschichte und spaltet die Gesellschaft bis heute wie kaum ein Zweiter. Während die einen ihm Statuen errichten, wissen sich die anderen in ihrer Wut nicht anders zu helfen, als diese Denkmäler zu schänden. Horthy, der mit Mussolinis Italien und Hitler-Deutschland paktierte, verfolgte das damals äußerst populäre Ziel, die nach dem ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zurückzuerobern. Innenpolitisch strebte er danach, das Magyarentum, den ‚authentischen‘ ungarischen Charakter des Volkes, zu stärken, was nicht nur die Ungarndeutschen, sondern auch in außerordentlichem Maße die jüdische Bevölkerung zu spüren bekam.
„Gesellschaftliches Gleichgewicht“ durch Ausgrenzung
Auf diesen Aspekt der Politik des Horthy-Regimes konzentrierte sich Ungváry in seinem Vortrag. So berichtete er, es sei aus Aufzeichnungen und Briefen des Reichsverwesers bekannt, dass dieser sich sogar offen brüstete „der erste Antisemit in Europa zu sein, der es ans Staatsruder geschafft hat.“ Seine Ressentiments spiegelten sich in einer Reihe von Judengesetzen wider, die den Ungarn jüdischer Herkunft ab 1920 sowohl den Zugang zu den Universitäten als auch zum Staatsdienst mithin unmöglich machten. Mithilfe von Diagrammen zeigte der Historiker, dass Juden in besser bezahlten Anstellungen und damit in der intellektuellen Mittelschicht in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Relation zur Mehrheitsgesellschaft überrepräsentiert waren. Dies änderte sich mit den Reformen und dem, wie Ungváry es bezeichnet, bürokratischen Antisemitismus im hypermagyarisierten Ungarn der 1930er Jahre. Ein ‚gesellschaftliches Gleichgewicht‘ sollte geschaffen werden durch die Einführung von Quoten und der Zwangsverpflichtung in Berufskammern, die nur begrenzt Juden aufnahmen.
Späte Einsicht Miklós Horthys
Angesichts all dessen mag es verwundern, dass Horthy in gewissen Kreisen heute auch als Judenretter gefeiert wird. 1944 setzte er sich gegen die weitere Deportation der ungarischen Juden ein – allerdings viel zu spät und zögerlich, wie Ungváry sagt. Zwar hatte Horthy schon früher öffentlich Sorge ausgedrückt, blieb jedoch passiv, ernannte außerdem zwei bekannte Antisemiten zu seinen Staatssekretären und forderte 1944, nicht mehr über die Judenfrage informiert zu werden. Das Bild eines Zauderers und eines extrem konservativen Staatsoberhaupts zeichnet sich ab, dem der Nationalsozialismus Hitlers, trotz gewisser ideologischer Überschneidungen, zu ‚revolutionär‘ war. Als das Kriegsende abzusehen war, suchte Horthy erfolglos einen Ausweg für Ungarn, ohne erneut auf der Seite der Verlierer zu stehen. Er wurde gefangen genommen und durch den hitlertreuen Szálasi ersetzt. Das Kriegsende erlebten nur ein Viertel der ungarischen Juden.
Zielsicher machte Ungváry den roten Faden sichtbar, der sich von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis zu diesem traurigen Ende gezogen hatte. Auf Fakten begründete
Annäherung Der bekannteste Zeitgeschichtler Ungarns ist auch in Deutschland kein unbeschriebenes Blatt. Auch seine letzte Publikation war bereits in der dortigen Presse diskutiert worden, wie er mit ironischem Unterton am Vortragsabend erzählte, noch bevor sie überhaupt ins Deutsche übersetzt worden war. Während sich Ungváry in Ungarn oft den Vorwurf gefallen lassen muss, nicht Ungarisch genug zu sein, stieß er in Deutschland mit seinem Ansatz, Antisemitismus während der Nazizeit als rational begründbar zu bezeichnen, teilweise auf Unverständnis und brachte ihm vom Herausgeber der Die Welt, Thomas Schmid, den Vorwurf der Verharmlosung ein. Davon war am vergangenen Donnerstag jedoch nichts zu spüren. Wertfrei, auf Fakten beruhend und sich weder durch den Schmerz der einen oder der anderen Seite beeindruckt zeigend, referierte Ungarns „Star“-Historiker. Dies mag gefühllos klingen, gehört aber zu den Voraussetzungen guter Wissenschaft. Verstehen können das jedoch weder die Sympathisanten Horthys noch jene, die ihn verteufeln.
Emotionen verhindern wertfreie Beurteilung
Die Hoffnung des Abends bestand darin, einen Weg zu finden, Horthy ohne Emotionen als historische Person und Politiker beurteilen zu können. Doch ohne Sentimentalität könne, so Ungváry, der frühere Reichsverweser und sein Regime in Ungarn nicht diskutiert werden. Dafür schlummere noch zu viel Zorn und verletzter Stolz in der ungarischen Volksseele: Die lange Besatzung und die Unselbstständigkeit, der Verlust von fast 2/3 des früheren ungarischen Territoriums, der aus dem Vertrag von Trianon resultierte und die Unterdrückung, die Ungarn als sowjetischer Satellitenstaat erfuhr – all dies macht die Ungarn empfänglich für die romantische Verklärung des eleganten Marineadmirals, der auf seinem Schimmel in Budapest eingeritten kam, um das Land wieder zu wahrer Größe zu verhelfen. Am Ende, resümierte Ungváry, sei Horthy doch nur ein mittelmäßiger Politiker gewesen. Weder ein berechnendes Monster, das ideologisch stramm hinter der deutschen Vernichtungsindustrie stand, noch der moralisch erhabene, nur auf das Wohl Ungarns bedachte Held, wie ihn vielleicht einige sehen möchten.
Auch wenn es Ungváry in seinem Vortrag gelungen sein mag, Horthy ohne Zorn und Eifer zu betrachten, wird er nicht die Augen derer öffnen können, die weiterhin blind auf ihren eigenen Standpunkt beharren. Damit stellt sich die Frage, die leider in Ungvárys Vortrag keinen Platz hatte: Welche Rolle spielte und spielt bei der Verklärung des Antisemitismus die Gesellschaft? Leicht schiebt man die Verantwortung auf eine politische Figur oder eine Führungsriege ab. Doch war es nicht die Zivilbevölkerung, die sich nach einem Führer sehnte, um Ungarn und die ungarische Nation wieder groß zu machen?