Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee verhinderte Károly Szabó in einer Gruppe um Raoul Wallenberg die Erschießung Hunderter Menschen am Donauufer. Sein Schicksal ist eng mit dem des schwedischen Diplomaten verknüpft, der mit Schutzpässen Tausende als Juden klassifizierte Ungarn vor der Deportation bewahren konnte. Denn nur acht Jahre später wurde Szabó zum Sündenbock in einem Schauprozess um den angeblichen Mord an der Legende Wallenberg.
Diese Erfahrung prägte das Verhältnis seines Sohnes zu Ungarn tief. Tamás Szabó verließ das Land nach dem Tod seiner Eltern und lebt seit 1972 in München. Seit über fünfzehn Jahren folgt er den Spuren seines Vaters, der 2012 posthum als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde.
Eva Löw steht im Schnee am Ufer der Donau. Sie friert, ist ausgehungert, verletzt und hat kaum Kleidung am Leib. Die 154 Menschen aus dem schwedischen Schutzhaus in der Üllői út erwarten in dieser Nacht ihr Ende. Sie sind einige der wenigen verbliebenen Juden in Budapest. In der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 1945, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, erleben sie den letzten Angriff auf ein Schutzhaus durch die Pfeilkreuzler. Diese terrorisieren schon seit Monaten das ganze Land. „Tut es weh, wenn geschossen wird?“, hört Löw ein kleines Mädchen fragen. Plötzlich halten Polizeilastwagen am Ufer, aus denen rund 20 bewaffnete Beamte stürmen, angeführt vom Polizeikommandanten und einem „Ivan Nagy“. Er trägt einen dunklen Ledermantel und will die Verantwortung für die Gefangenen übernehmen, stellt sich mit einem herrischen Ton vor die Pfeilkreuzler. Dann werden die Familien – unter dem Schutz der bewaffneten Polizisten – zurück in die Ullői út gebracht. Sie überleben.
Idee zur Recherche
Eva Löw ist eine Zeitzeugin, deren Berichte Tamás Szabó bei seiner Recherche weiterhalfen. Seit Mitte der 1990er Jahre rekonstruiert er die Ereignisse von damals. Er recherchiert im Ungarischen Staatsarchiv, in Nachlässen und Memoiren von Zeitzeugen und steht mit Überlebenden in Kontakt. Maria Ember, eine ungarische Journalistin, hatte die Geschichte vor über 20 Jahren zum ersten Mal aufgegriffen, „Sie hat mich ermutigt, selbst zu recherchieren“, erzählt Szabó.
Stadt im Blut
Im Oktober 1944 übernehmen die Pfeilkreuzler die Macht in Ungarn. In Zusammenarbeit mit dem „Bluthund“ Adolf Eichmann treiben sie den Massenmord an den als Juden klassifizierten Ungarn voran. Der Tod ist in der Donaumetropole allgegenwärtig. Leichen türmen sich im Stadtwäldchen (Városliget), einzelne Straßen sind blutüberströmt. Budapest ist zu einem Massengrab geworden. Bis Mitte Februar 1945 verringert sich der Anteil der Juden an der Budapester Gesamtbevölkerung um mehr als 105.000 Menschen. Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg ist schon seit Sommer 1944 in der Stadt. Mit Einfallsreichtum, großem Mut und Hunderten Helfern bewahrt er Tausende Menschen vor der Deportation, oft in letzter Minute auf den Bahngleisen. Er lässt schwedische Schutzpässe ausstellen und errichtet für die Verfolgten Schutzhäuser wie in der Üllői út 2-4, die sozusagen zu jüdischen Enklaven werden. Hier stehen die Verfolgten unter dem Schutz der Schweden. Doch irgendwann, der Winter naht, erschöpfen sich seine Möglichkeiten: Die Pfeilkreuzler erklären die Dokumente für ungültig, Tausende Fälschungen sind im Umlauf. Zudem steht die Rote Armee vor der Stadt, die Pfeilkreuzler haben nichts mehr zu verlieren. Eva Löw erinnert sich: „Von nun an muss jeder selbst für seine Sicherheit sorgen“, habe Wallenberg ihr Ende des Jahres mitgeteilt, „Plötzlich revidierte er aber seine Mitteilung“, denn ein „Iván Nagy“ helfe ihm dabei, seine Rettungen fortzuführen. Sie ist überzeugt, dass dies der Deckname für Károly Szabó war.
Der Mann im Ledermantel
„Mein Vater war ein lustiger Typ, ein Draufgänger“, erinnert sich Tamás Szabó an seine frühe Kindheit. Im Sommer 1944 hatte sein Vater, damals 27 Jahre alt, seine Arbeit als Schreibmaschinenmechaniker in der schwedischen Botschaft begonnen, auf dem Gellértberg auf der Budaer Donauseite. Dort lernt er den Psychiater Arzt Ottó Fleischmann kennen, „Er war der geistige Initiator der Rettungsaktion“, glaubt Tamás Szabó. Belege dafür findet er in Fleischmanns Nachlass. Dessen Witwe hat diesen erst im vergangenen Jahr an die Library of Congress in den USA überstellt. Darin liest Szabó, dass der Psychiater zu dieser Zeit in der Botschaft herumfragt, wer Kontakte zur ungarischen Polizei habe. Und dass er Károly Szabó motiviert, in der Gruppe um Wallenberg mitzuwirken, weil sein Jugendfreund Pál Szalai in der Pfeilkreuzler-Partei ist und Verbindungen zur ungarischen Polizei hat. Szalai will von innen heraus für den Widerstand arbeiten. Er kann Ausweise und Vollmachten besorgen, die für Wallenbergs Rettungsaktionen von großer Hilfe sind. „Mein Vater war zunächst vorsichtig, er wollte zunächst nur mit Informationen dienen – er hatte eine Familie.“ Ein Zwischenfall ändert dann alles: Szabó, Dr. Fleischmann und ein dritter Mitarbeiter Wallenbergs, Dr. Paul Hegedűs, werden von einer Truppe Pfeilkreuzler angehalten, die Fleischmann und Hegedűs auf offener Straße erschießen wollen. Geistesgegenwärtig zückt Szabó die von Szalai besorgten Ausweise. Mit seinen blonden Haaren, den blauen Augen und einem herrischen Auftreten verschafft er sich den Respekt der ungarischen Faschisten, die glauben, einen Gestapo-Mann vor sich stehen zu haben. In der Folge probt Fleischmann mit Szabó das Auftreten als Offizier, ein schwarzer Ledermantel, wie ihn Gestapo-Männer tragen, perfektioniert seine Erscheinung. Der „Mann im Ledermantel“ wird von Zeugen auch in der Révay utca und in der Jókai utca gesehen. Durch diese waghalsigen Rettungsaktionen werden Hunderte Menschen vor dem sicheren Tod an der Donau bewahrt.
Der Held wird zum Sündenbock
Mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Januar 1945 atmet Budapest auf. Am 12. Januar lädt Wallenberg seine Helfer zu einem letzten gemeinsamen Abendessen ein: Den Pfeilkreuzler Szalai, den Psychoanalytiker Fleischmann und den Mechaniker Szabó. Am nächsten Tag will er im Hauptquartier der Russen in Debrecen um Hilfe für die Versorgung des Ghettos in Budapest bitten. Das Unfassbare geschieht: Der Diplomat Wallenberg verschwindet. Bis heute konnte sein Schicksal nicht aufgeklärt werden. Seine Spur verliert sich im sowjetischen Gulag. Dort soll er noch in den 1980er Jahren gesehen worden sein. Das Verschwinden der Legende Wallenberg führt zu einem internationalen Aufschrei. Schweden fordert noch Jahre danach seine Freilassung und eine Stellungnahme der Sowjetunion.
Auf einem Familienfoto lacht Tamás Szabo in die Kamera, dahinter blinzeln seine Eltern gegen die Sonne, der Vater legt die Hand auf seine Schulter. Eine kurze Idylle. Die Familie ist zu einem Ausflug in die Berge um Budapest aufgebrochen. An diesem Tag liegt das Kriegsende drei Jahre zurück. Die Umbruchphase, die Schauprozesse der Stalin-Herrschaft sind aber in vollem Gange. Im Frühling 1953 erreicht die Moskauer Politik Károly Szabó. „Am 8. April ging mein Vater zur Arbeit und kam dort nie an. Es gab keine Spur von ihm, sechs Monate nicht.“ Dass Menschen Anfang der 1950er Jahre einfach so verschwinden, gehört beinahe zur Tagesordnung. Stalin lässt unzählige Intellektuelle und politische Gegner verhaften. Monate vor seinem Tod im April 1953 vermutet er einen Giftanschlag jüdischer Ärzte auf ihn. Er verfolgt fortan eine antisemitische Politik.
„Betrachtet es als Unfall“
Zahlreiche Menschen jüdischen Glaubens werden in antizionistischen Schauprozessen angeblicher Vergehen bezichtigt. Ohne Anklage. Das Gros der Akten wird vernichtet. In einem Schauprozess wollen die Kommunisten unter Stalin nun nachweisen, dass Raoul Wallenberg nicht in die Sowjetunion verschleppt, sondern ermordet wurde. Ein Sündenbock muss her. Zunächst fällt die Wahl auf Personen aus der Führung des Zentralrates der Juden in Budapest. Doch während ihrer Folterhaft erleiden László Benedek, Lajos Stöckler und Miksa Domonkos solch schwere Verletzungen, dass sie nicht mehr imstande sind, einen Prozess durchzuhalten. So fällt die Wahl auf die letzten Gäste Wallenbergs in der Schwedischen Botschaft in der Gyopár utca, Károly Szabó und Pál Szalai – Ottó Fleischmann ist bereits nach Wien ausgewandert. Sie hatten den Gesandten das letzte Mal lebend gesehen. „Betrachte es als einen Unfall. Als wäre ein Ziegelstein aus Versehen auf den Kopf von jemandem gefallen. Dieser Stein fiel von hoch oben aus Moskau herab”, raunt ein Geheimpolizist Károly Szabó während der Inhaftierung zu. „Den Prozess habe ich mit meinen neun Jahren bewusst miterlebt“, erzählt der Sohn.
Letzter Besuch bei Überlebenden
Nach Stalins Tod endet der Prozess, die Verhafteten bleiben jedoch bis November im Gefängnis – die Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, um ein Geständnis herauszupressen, sollten einigermaßen verheilen. Am 15. November kehrt Károly Szabó ohne Vorankündigung nach Hause zurück, „als gebrochener Mann.“ Die Spuren der Folter überziehen unübersehbar den ganzen Körper. „Sein Gesicht war voller Narben. Einige der Wunden verheilten auch bis zu seinem Tod nicht.“ Jahrelang wird in der Familie darüber nicht geredet, obwohl Mutter und Sohn eine Verbindung zu Wallenberg ahnen. „Mein Vater gründete bald eine kleine Werkstatt für Büromaschinenreparatur in unserer Wohnung.“ Aufträge erhält er vor allem von jenen, die er 1945 gerettet hat. „Darunter waren einige, die unter dem kommunistischen Regime zu Einfluss gelangten, an diese konnte er sich bei Problemen wenden.“
Das Thema Raoul Wallenberg wird in Ungarn Ende der 1950er Jahre weiter ignoriert, erst Anfang der 1960er Jahre kommt es zu einer Auflockerung, als die Gefangenen aus den Prozessen um den Aufstand von 1956 wieder freigelassen werden. Auch Károly Szabó beginnt, das Erlebte aufzuarbeiten. Er will die Geretteten von 1945 im Ausland aufsuchen, um mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Er fliegt nach Basel, Paris und London und besucht dort die Überlebenden. Auf seine letzte Reise nimmt er seinen Sohn mit. „Ihm war es wichtig, dass ich diese Leute kennenlerne.“ Kurz darauf, im Jahr 1964, stirbt Károly Szabó im Alter von 48 Jahren.
Verdrängung und Vergessen
Das Erlebte liegt seither wie ein Schatten auf Tamás Szabós Verhältnis zu Ungarn. „Ich bin traurig, wenn ich sehe, wie die Gesellschaft auch noch 20 Jahre nach Ende des Ein-Parteien-Systems entzweit ist. Ich glaube, die Wunden der dunklen 1950er Jahre trugen ihren Teil dazu bei.“ „Károly Szabó wurde von den Kommunisten niemals rehabilitiert.“ Bis in die 1960er Jahre hinein bleiben Wallenberg und die zahlreichen Schauprozesse tabuisiert, zu einer Auflockerung kommt es erst, als die Verhafteten des Aufstandes von 1956 wieder freigelassen werden. Tamás Szabó selbst gelangt im Jahr 1969 mit einem Touristenpass nach Westdeutschland. „Der geplante Schauprozess und die Tatsache, dass mein Vater nach dem Ende des Stalinschen Kommunismus nicht rehabilitert wurde, sorgten dafür, dass ich Ungarn bei der ersten Gelegenheit verließ.“ Dort beginnt er seine berufliche Laufbahn als Programmierer.
Im Jahr 2012 erhält Károly Szabó posthum die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“, eine Ehrung des Staates Israel und der Gedenkstätte Yad Vashem für all diejenigen, die während des Holocaust unter Einsatz ihres Lebens Menschen jüdischen Glaubens retteten. An die Pogrome durch die Pfeilkreuzler in Budapest erinnert heute das Denkmal der metallenen Schuhe am östlichen Donauufer, 300 Meter südlich des Parlaments (Bild Seite 23).
Vor 68 Jahren tritt Károly Szabó an diesem Ufer in seinem Ledermantel vor die Pfeilkreuzler und fordert sie auf, ihre Waffen niederzulegen. Sie sind im Begriff, Eva Löw und Hunderte anderer Juden hinzurichten, einige der letzten der Stadt. Die Schuhe erinnern auch an Raoul Wallenberg, Pál Szalai, Ottó Fleischmann und die 20 unbenannten Polizisten aus den kalten Januarnächten damals in Budapest.
Dank an Janina Rottmann und die Budapester Zeitung.
Botschaft des Staates Israel und deutsche Zeitungen
https://db.tt/yzDQeJkv
http://mek.oszk.hu/09600/09621/pdf/wallenberg-ger.pdf
http://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A1roly_Szab%C3%B3