Zwei Mädchen in grellen rosafarbenen Kleidern, ein Junge in ärmlicher Umgebung, zwei geigende Männer in einem Garten, eine Kopftuch tragende Frau im langen Rock mit Rosenmuster, ein dunkelhäutiger Teenager mit Goldkette. Die Bilder, die Joci Márton, Freiwilliger bei der Stiftung UCCU, den Jugendlichen in einer Budapester Mittelschule zeigt, sind zensiert. Die Köpfe der Abgebildeten ersetzen weiße, aufgeklebte Kreise. Und dennoch weiß jeder, wer zu sehen ist.
„Ich denke, es könnten Zigeunermädchen sein, weil Hochzeiten bei den Zigeunern ja ein großes Ding sind und die sich da immer so herausputzen“, sagt einer der Schüler vorsichtig. Als der Aufkleber vom Bild abgezogen wird, erscheinen zwei – zumindest dem Äußeren nach – Nicht-Roma-Kinder; die grellen Kleider bleiben. Ach so. Das waren ja gar keine Zigeuner. Sahen aber genau so aus. Auf diesen Aha-Effekt hat Joci gewartet.
„Ich bin Joci Márton, Freiwilliger bei der Stiftung für informelle Bildung für Roma, UCCU“, stellt sich ein junger Mann in der Nähe des Deák Ferenc tér vor. Der Raum in den Büros der Stiftung, in dem der 28-Jährige sitzt, ist voll mit Tischen, Stühlen, Notizbüchern und -tafeln. „Ich lebe in Budapest und besuche momentan die Central European University.“ Joci ist einer von knapp 20 jungen Roma, die sich freiwillig bei der Stiftung engagieren und Gesprächsrunden als Moderatoren anleiten. Das Bilderrätsel ist Teil mehrerer Spiele und Programme, die die Stiftung an Schulen durchführt. Joci ist bereits seit den Anfängen vor über drei Jahren dabei, als UCCU von der Soziologin Flóra László gegründet wurde. „Kinder haben ihr Wissen über Roma oft aus dem Fernsehen statt persönliche Erfahrungen zu sammeln“, kritisiert Joci. „Wir von UCCU fanden, dass es an der Zeit sei, ohne Tabus über das Thema zu sprechen und wollten die Möglichkeit geben, dass Nicht-Zigeunerkinder junge Roma direkt treffen und ihnen ihre Fragen stellen können, ohne dabei heiklen Themen ausweichen zu müssen. Deshalb haben wir das Schulprogramm ausgearbeitet, weil wir gespürt haben, dass in Ungarn im Roma-Thema der Dialog vergrößert werden muss.“ Die 90-minütigen Schulprogramme richten sich hauptsächlich an Kinder zwischen 14 und 19 Jahren, doch auch Grundschüler werden mit kürzeren, etwa 45-minütigen Programmen besucht. Der Ablauf ist frei und locker, es gibt keinen festen Fahrplan und keinen Frontalunterricht.
Political Correctness
Der tabulose Dialog kann den jugendlichen Schülern das ein oder andere Mal jedoch auch Plattitüden, Verallgemeinerungen oder gar Beleidigungen entlocken, denen die Roma-Moderatoren trotzen müssen: „Wenn wir so ein Schulprogramm machen, dann sind wir in einem ganz anderen Zustand, dann müssen wir alles akzeptieren, was uns die Schüler sagen“, erläutert Joci den Umgang mit kritischen Momenten. „Auch wenn es noch so beleidigend für uns ist: Wir dürfen es nicht mal zeigen. Denn wenn man uns anmerkt, dass uns etwas nicht gefällt oder dass uns eine Bemerkung verletzt, dann stockt die Kommunikation. Genau an diesem Punkt stellt sich unsere Glaubwürdigkeit heraus. Denn wir haben nur 90 Minuten Zeit, treffen die Schüler vor Ort zum ersten Mal und müssen ihnen sofort das Gefühl geben, dass wir gespannt sind auf ihre Ansichten.“ Auf politische Korrektheit zu pochen, würde die Probleme nach Ansicht von Joci schlicht unter den Teppich kehren. „UCCU arbeitet ja genau dafür: dass wir endlich geradeheraus und ehrlich über das Thema sprechen können.“
„Das Thema“ ist vor allem eines: eine große Unbekannte. Denn trotzdem Roma und Nicht-Roma seit hunderten Jahren im Gebiet des heutigen Ungarn zusammenleben, verschmelzen die beiden Volksgruppen nur selten, die Schere zwischen Vorurteil und Fakt ist groß. Oft basieren die Kenntnisse der Mehrheit der Nicht-Roma über die Minderheit der Roma auf spekulativen Annahmen oder banalen Einzelaufnahmen. Das ungarische Meinungsforschungsinstitut TÁRKI („Társadalomkutatási Intézet“, Institut für Gesellschaftsforschung) betreibt seit nunmehr elf Jahren Vorurteilsforschung und erstellt repräsentative Bevölkerungsbefragungen zum Thema Xenophobie. Dabei konnte zwischen 1992 und 2002 ein Zuwachs der Fremdenfeindlichkeit in der ungarischen Gesellschaft verzeichnet werden, seitdem stagnieren die Zahlen. Allen voran bezieht sich der Fremdenhass auf die Roma. Deren Zahl beläuft sich innerhalb der knapp 9.9 Millionen Einwohner Ungarns nach offiziellen Angaben auf circa 300.000, etwa 3 % der ungarischen Gesamtbevölkerung. UCCU-Geschäftsführerin Flóra László schätzt den Anteil der Zigeuner an der Bevölkerung hingegen auf 600.000 bis 800.000. Rechtsradikale Stimmen wie das Online-Portal alfahir.hu gehen gar von mehreren Millionen aus. Doch auch ganze 33,5 % der ungarischen Bevölkerung vermuten einen Anteil von 11 bis 25 % Roma im Land; 24,9 % der Befragten halten sogar 26 bis 50 % für realistisch. Die groben Mutmaßungen spiegeln die Unkenntnis über die ethnische Minderheit wider. Und aus dieser Unkenntnis heraus begehen viele den Fehler der Verallgemeinerung. Die meisten Zigeuner seien nun mal kriminell. Ihre Kinder hießen eben oft Rómeó, Eszmeralda, Dzsenifer, Madonna, Kevin, Amanda oder Márió. Und die meisten Roma lebten nun mal in Armut. Meint die Mehrheitsgesellschaft.
Von Diskriminierten und Diskriminierenden
Einen bestehenden Zusammenhang zwischen der Geneigtheit zu Diskriminierung und Armut wiesen György Csepeli, Antal Örkény und Mária Székelyi in ihrer 2000 veröffentlichten Studie über Ethnozentrismus in Mitteleuropa nach. Dabei wird sowohl festgestellt, dass diejenigen, die selbst unter sozial eher schlechten Bedingungen und bildungsfern leben, selbst vermehrt diskriminieren, als auch, dass in Armut Lebende öfter Opfer von Diskriminierungen werden. Zeiten der Krise gebären Sündenböcke und solche, die mit dem Finger auf sie zeigen.

Integrierte Bildung und die Anregung eines Dialoges sind für Joci Márton die Schlüssel, um die Kluft zwischen Minderheit und Mehrheit zu überbrücken. (Foto: Philipp Fassbender)
Den deutlichen negativen Umschwung für Zigeuner brachte die politische Wende um 1989, deren gesellschaftlich-wirtschaftliche Auswirkungen insbesondere die größte Minderheit Ungarns, die Roma, trafen. Im sich wandelnden Wohlstandssystem erhielten die sozialen Konflikte immer öfter eine ethnische Nuance. Joci erlebte diesen Wandel in seiner Kindheit noch geschützt: Geboren wurde der Student im nordungarischen Komitat Nógrád, in Salgótarján. In Bátonyterenye-Nagybátony, einem kleinen Bergwerksort, wuchs Joci auf. „Meine Heimatstadt ist insofern besonders, als dass es damals eine sozialistische kleine Stadt war; der Unterschied zwischen Zigeunern und Nicht-Zigeunern war nicht besonders groß, denn keiner hatte Geld. Ich wuchs wie in einer kleinen Blase auf, weil der Fokus nicht so sehr darauf lag, wer jetzt Roma ist und wer nicht. Es gab elementarere Beschwerden“, beschreibt Joci seinen Herkunftsort. „Das heißt nicht, dass man im Alltag nicht auch Rassismus erlebte, doch die Situation war einfach nicht so verschärft.“ Glück habe er auch deshalb gehabt, weil Joci seine Schulzeit in „integrierten Klassen“ verbringen konnte. Sogenannte integrierte Bildung bringt in Ungarn Kinder aus Mehr- und solche aus Minderheiten zusammen und gibt so beispielsweise Roma und Nicht-Roman die Möglichkeit, zusammen zu lernen, sich kennenzulernen und dadurch Vorurteile und Wissenslücken übereinander abzubauen. „Für diejenigen Zigeuner, die in segregierten Klassen lernen, ist es beinah unmöglich, sich später fortzubilden“, findet Joci. Von dort sei der Ausweg besonders schwer.
Dialog und Bildung im Fokus
Nach Budapest führte Joci dann vor knapp fünf Jahren sein Studium. „Meine Eltern sind Arbeiter, ich komme nicht aus einer intellektuellen Familie, doch ich wurde sowohl moralisch als auch finanziell immer während meiner Ausbildung unterstützt.“ An der CEU besucht Joci momentan einen zwei Jahre andauernden Vorbereitungskurs für junge Roma, der dabei hilft, die Englischkenntnisse und somit Job-Chancen der Teilnehmenden zu verbessern. Das „Roma English Language Program” wird unter anderem von György Soros’ renommierter Open Society Foundation und deren Roma Initiatives Office unterstützt. „Im Anschluss an den Kurs kann man sich dann für den Master-Studiengang anmelden“, erzählt Joci. Er will anschließend Nationalism Studies oder Soziologie studieren, ebenfalls an der CEU. Die Arbeit bei UCCU will er jedoch auch in Zukunft fortsetzen und an Roma-Projekten mitarbeiten. „Die Antworten, die wir beispielsweise in den Schulprogrammen geben, können zwar nicht für die ganze Roma-Bevölkerung Ungarns stehen“, sagt Joci. „Wir sind keine homogene Gruppe, sondern allein kulturell und sprachlich sehr unterschiedlich. Doch es ist von größter Wichtigkeit, einen Dialog anzuregen“, findet er. Er wolle nicht klischeehaft klingen und es sei ein oft heruntergebetetes Mantra, „aber Bildung, speziell die integrierte Bildung, und der Dialog zwischen Roma und Nicht-Roma sind die Schlüsselwörter, um Minderheit und Mehrheit einander näher zu bringen.“
Lisa Weil