Der in Wien beheimatete Nischen Verlag unter der Leitung der Exilungarn Zsóka und Pál Lendvai hat sich auf das Verlegen ungarischer Autoren auf Deutsch spezialisiert. Mit György Spirós Roman „Der Verruf“ und der Kurzgeschichtensammlung „Der wogende Balaton“ von Lajos Nagy Parti sind ihnen zwei interessante Würfe gelungen, sind doch in beiden Geschichten mit ganz besonderem Humor um schrullige bis skurrile Figuren zu finden. Wer also zum Fest gerne „etwas andere“ Literatur verschenken möchte, sollte die zwei Werke in Betracht ziehen.
Laut Klappentext entdeckt Spiró die verrücktesten Geschichten in der Realität und gießt diese dann in eine Form. Da passt es auch, dass der gelernte Historiker eine „fast kafkaeske Geschichte eines Antihelden“ in Budapest kurz vor dem 1956er-Aufstand präsentiert: Gyula Fátray begibt sich Mitte Oktober wegen einer Operation ins Krankenhaus – laut Erzähler kann so etwas einige Tage vor Ausbruch einer Revolution nicht schaden, „denn so muss man sich für keine Seite entscheiden.“ So nimmt man bereits vorweg, dass sich Fátray später gar nicht entscheiden kann. Als er eigentlich gehen darf, bricht der Aufruhr aus, alle werden im Keller des Hospitals evakuiert. Während der ersten Schüsse denkt er als Veteran: „Davon, dass er noch einen Krieg erleben sollte, war nie die Rede gewesen.“ Der Protagonist ist Jude und hieß zuvor Klein, durch einen Amtsfehler wurde statt dem von ihm gewünschten „Tátray“ aus ihm „Fátray“; er verkörpert so allein vom Namen her schon die Verlorenheit des Individuums gegenüber dem willkürlichen System. Wieder zu Hause kam ihm das Krankenhaus wie ein Urlaub vor, er fühlte sich „von der Ehe befreit“. Dass eine Figur im Negativen Positives sieht, erinnert Kenner ungarischer Literatur an Imre Kertész‘ „Roman eines Schicksallosen“, wo sich der junge Protagonist (aus Zufall oder nicht: ebenfalls ein „Gyula“) über das regelmäßige Essen im KZ freut.
Ähnlich den Einschusslöchern und verwüsteten Häusern am Oktogon scheint auch der gesellschaftliche Zusammenhalt Ungarns zerstört, es ist die Zeit der Verdächtigungen, Verleumdungen, Verfolgungen und Schauprozesse. Fátray ergeht es auch so: Nachdem er bei einer Betriebssitzung die Produktion eigener PKW in Ungarn vorschlägt, reagiert er auf das Schweigen der anderen sauer und äußert sich kritisch über andere Ostblock-Länder. Später hat er deswegen mit dem Parteisekretär sein erstes Kader-Gespräch und wird genauestens über seine Herkunft ausgefragt – obwohl der Sekretär sowieso bereits alles aus seiner Akte über ihn weiß. Eines Tages taucht ein Népszabadság-Artikel auf, indem ein gewisser Fátray ohne Vornamen der Verschwörung gegenüber Ungarn während des Aufstandes beschuldigt wird. Die Aufregung um den Artikel bestimmt den Rest des bedächtig in Fahrt kommenden Buches, in dem es Spiró aber zunehmend gelingt, die Angst vor dem willkürlichen sozialistischen Staat über seine Figuren auf den Leser zu übertragen. Man fühlt beinahe am eigenen Leib, wie sich die Schlinge um Fátrays Hals zusammenzieht.
„Auf Deutsch, in der nüchternen Lichtbrechung einer anderen Sprache […] erscheinen sie mir eben deshalb als spezifisch ungarische Geschichten“, wird Nagy im Klappentext zitiert. Tatsächlich beinhalten die 16 Kurzgeschichten der Sammlung „Der wogende Balaton“ viele „spezifische ungarische“ Figuren: Da wäre in „Wie eine gefrorene Hundepfote“ ein irrer Patient, der seinem Arzt von seinem kalten Zimmer bei einem ehemaligen Hauptmann erzählt, wo er als Uniformschneider arbeitet und lebt. Er schläft in dem Trog, in dem die geschlachteten Schweine ausbluten, er muss diesen anschließend reinigen. Von Vulgärausdrücken für die Geschlechtsteile abgesehen, beschreibt der Patient auf fast poetische Weise, wie die leibliche Lust den menschlichen Körper durchströmt. Als er eines Nachts vom Sex mit der Frau des Hauptmanns träumt, wacht er schließlich mit einem vom Salz brennenden Penis auf.
In Nagys weiteren, mit viel makaberem Humor gewürzten, Texten scheint auch das sozialistische Ungarn durch, etwa in der Titelgeschichte „Der wogende Balaton“, die in das Drehbuch der ungarisch-deutsch-französischen Filmproduktion „Taxidermia“ (2006) einfloss. Sie erzählt vom schwergewichtigen Kálmán, der ein talentierter Schnellesser ist. Ähnlich den Fresswettbewerben lässt Nagy den Protagonisten auch gleichzeitig symbolisch gegen die Rationierungen und die Sortimentsarmut des Sozialismus antreten. So sind die Beschreibungen von ungesund großen Portionen als literarischer Ausbruch aus dem System zu sehen, das den Autor selbst hervorbrachte. Weitaus düstererer geraten ist „Hotel Ewiggrau“, in dem der Erzähler und seine Begleitung landen und von den Dorfbewohnern bedrängt werden. Dabei wird es immer surrealistischer (einige Bewohner können plötzlich fliegen), eine bedrohliche Atmosphäre entsteht, als die Frauen ihnen mit Gewalt die Haare machen wollen. Als sie flüchten und die Bewohner „wie ein Nebel“ Richtung Auto schweben, bricht die Erzählung ab, der Autor lässt den Leser bewusst alleine stehen. Nagys Geschichten drehen sich alle in irgendeiner Form um menschliches Verlangen, sei es nach Geld, Zuneigung, Macht oder Liebe. Er schafft es aber, die Charaktere und Geschichten so wunderbar ins Unrealistische zu überzeichnen, dass der Leser nicht die leidenschaftliche Dimension dieser Bedürfnisse verspürt. Er muss entweder herzlich lachen oder verwundert den Kopf schütteln.