Bereits über ein Jahr ist das Gespräch mit dem Pfarrer der katholischen deutschsprachigen St. Elisabethgemeinde, Gregor Stratmann, her, in dem er der ungarischen Gesellschaft zu mehr Dialog geraten hatte. Zum Jahresende 2013 sprach die Budapester Zeitung erneut mit ihm, um festzustellen, dass er die ungarische Gesellschaft weiterhin mit großer Nachdenklichkeit begleitet.
„Ich fühle mich hier angekommen und angenommen, behalte aber weiterhin meine Distanz, aus der ich beobachte“, sagt Pfarrer Stratmann. „Ich kann mit meinen mangelnden Ungarisch-Kenntnissen alles Notwendige organisieren, ich bin im Alltagsrhythmus. Dennoch lebe ich weiterhin in einer Art Biotop mit deutsch-österreichisch-schweizerischen Alltäglichkeiten.“ Doch nimmt er mittlerweile das Feinmotorische der ungarischen Gesellschaft stärker wahr. Heute sehe er differenzierter, was diese leisten könne, etwa bei sozialen Themen. Er wusste bereits vor seiner Ankunft, dass in Ungarn die Familie einen starken Bezugspunkt bedeutet. Nun stelle er aber oft fest, dass es dort auch starke Brüche gibt: „Die Familie ist als Nimbus noch sehr wichtig. Gleichzeitig finden darin wie in anderen westlichen Zivilisationen aber enorme Veränderungen statt.“ Er sei zwar immer noch ein distanzierter Beobachter hiesiger Verhältnisse, habe aber mit den hier gewonnenen Erfahrungen manchmal einen differenzierteren Einblick in einzelne Vorgänge als so manche Einheimische.
Bei seinen Reisen durch das Land habe er festgestellt, dass einige verdrängte Themen lange tabu waren, denen man sich aber nun behutsam nähere. Etwa der Vertreibung der Donauschwaben über die Einrichtung eines entsprechenden Gedenktages. „Das Aufarbeiten solcher Probleme war vorher kaum vorhanden, jetzt werden sie endlich aufgenommen“, fährt er fort. „Das Bemühen der Gesellschaft nach Aufarbeitung ist erkennbar. Auch wenn es manchmal etwas wackelig geschieht, wie etwa im Haus des Terrors.“ Der Memento Park mit seinen überdimensionierten Lenin- und Marx-Statuen gehört mittlerweile zu seinen Lieblingserinnerungsorten in der Stadt. Die Statuen seien zwar „an den Rand der Stadt geräumt, aber nicht gestürzt“. Für ihn repräsentiere dies ein weiteres Bemühen zur Aufarbeitung eines dunklen Kapitels ungarischer Geschichte. Genauso wenig könne man der Gesellschaft das Engagement zur Aufarbeitung des Antisemitismus absprechen.
„Immer noch zu wenig Dialog“
Pfarrer Stratmann hat persönlich keine negativen Erfahrungen in Ungarn gemacht, vielmehr hat er in seiner Kirche wie im Alltag viel Zuspruch erfahren, etwa wenn er sich im Ungarischen versuchte und man ihm oft auf Deutsch antwortete. Ihn beschäftigt aber die Polarisierung der ungarischen Gesellschaft, es gebe immer noch zu wenige verbindende Elemente im Diskurs und im Miteinander, „das irritiert mich nach zweieinhalb Jahren immer noch.“ Zu viele Klassifizierungen spielten dabei eine unterschwellige Rolle, etwa ob jemand Jude sei. Solche Klassifizierungen seien aber für ihn nichtssagend, da ohne Informationswert: „Da merke ich, wie schwer es ist, solche teilweise uralten Kategorien aufzubrechen. Es ist schade, dass dort Neuanfänge schwer zu vermitteln sind.“ Ähnlich erstaunt den Pfarrer immer wieder das Nationalbewusstsein und die Liebe zur Sprache, die die Ungarn linguistisch von allen anderen Europäern abgrenze. Daneben freut es ihn sehr, dass so mancher Ungar aus Interesse an der deutschen Sprache den Kontakt zur Pfarrei und zu ihm persönlich sucht.
Zum ungarischen Kirchengesetz, das eine Glaubensgemeinschaft erst ab einer gewissen Größe als „Kirche“ anerkennt, merkte er an, dass dieses von einem säkularen Staat verabschiedet worden sei, der damit in eine über 2000-jährige Traditionsgeschichte „rein redigierte“ und damit Unstimmigkeiten erzeugt habe: „Eine Zahl kann kein Definitionsmerkmal dafür sein, dies wäre eine rein ökonomische Sicht. Es kann etwa Gemeinschaften geben, die vielleicht in Ungarn klein, woanders aber groß und anerkannt sind.“ Bei solch komplexen Themen zeige sich, dass man hier oft zu Schnellschüssen neige. Man müsse stattdessen alle Parteien an einen Tisch holen und heraushören, wo wirklich eine ernste spirituelle Ebene vorhanden und was ein „raffinierter Stiftungstrick“ sein könnte. „Dabei könnte man auch aufnehmen, wie das in anderen multireligiösen Gesellschaften in Europa gehandhabt wird“, so der Pfarrer. Zur Not sollte man so etwas auch – wie häufig in Deutschland geschehen – von einem Gericht klären lassen. „Aber das scheint nicht die Art der Politik hier zu sein, wie es sich etwa auch in der Minderheitenpolitik zeigt.“ In Ungarn bräuchten solche normalen Verfahren einen längeren Vorlauf, zudem realisiere man selten, dass Lösungen immer Ergebnisse eines Reflexionsprozesses seien. Hierzulande würden eher abrupte Vorgaben von Seiten der Politik gesetzt.
Ökonomie immer bestimmender für das Sein
Die ungarische Verwaltung betreffe ihn zwar kaum, dennoch machte er eine interessante Erfahrung, als er sich für sein Finanzamt in Münster eine ungarische Steuernummer auf einem europäischen Formular besorgen musste: „Als ich meinem Sachbearbeiter in Münster erklärte, dass so etwas in Ungarn bestimmt nicht sofort zu lösen sei, sagte dieser: „Stimmt, ich gebe Ihnen eine Frist von acht Wochen.“ Er kannte vermutlich schon die hiesigen Verwaltungsumstände.“ Hierzulande sei seinem Gefühl nach eine transparentere Verwaltung schwieriger zu errichten. Diese würde hier nicht nur dienen und organisieren, sondern oft auch herrschen. In einem Land mit einer so kurzen Geschichte der Bürgerbewegung sei eine Vormachtstellung der öffentlichen Institutionen nicht gut für die Menschen. „So werden Konflikte in der Gesellschaft eher zementiert als gelöst“, kritisiert Stratmann. Ökologische Themen würden ebenfalls oft ökonomischen Gesetzen untergeordnet. „Der Markt bestimmt das Sein, selbst in der Politik, die doch eigentlich über ihm stehen müsste“, formuliert er, „da stehen einem als Theologen oft die Haare zu Berge. Die Politik muss sich ihre Gestaltungskraft wieder zurückholen.“
Umwelt sei genauso eine Gestaltungsmaxime der Politik wie Bildung, Kultur oder eben Religion, die alle nicht marktkonform sein könnten. Europas Politiker würden oft gar nicht mehr genau wahrnehmen, wie sehr das ökonomische Denken inzwischen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens gedrungen sei, oft als alleiniges Gestaltungsprinzip. Der ungarische Staat hat seiner Meinung nach etwa beim Kirchengesetz nach solchen ökonomischen Gesichtspunkten gehandelt. „Das wird sich irgendwann rächen“, meint der Pfarrer, „wir haben dies bereits bei den Banken gesehen. Trotzdem machen diese fröhlich weiter wie bisher, ohne Demut und voller Gier.“ Weihnachten werde er zwar entgegen vieler Einladungen wie gewohnt alleine verbringen. Aber er sei gerne der Einladung des Deutschen Wirtschaftclubs in Budapest gefolgt und werde dessen Weihnachtsfeier mit einem Auftritt unterstützen.. „2016 läuft mein hiesiger Vertrag aus. Dann werde ich, so denke ich, Ungarn verlassen. Bis dahin will ich versuchen, noch stärker im sozialen Bereich mitzuwirken“, blickt der Pfarrer in die Zukunft.