Hans-Henning Paetzke, Jahrgang 1943, ist in der DDR aufgewachsen und 1968 nach Ungarn emigriert, wo er bis heute die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Nach Abschluss seiner Schul- und Theaterausbildung hat er u.a. bei der Budapester Rundschau gearbeitet, war aber seitdem ausschließlich freiberuflich als Übersetzer und Dolmetscher tätig. Seit über 40 Jahren übersetzt er die Werke bedeutender ungarischer Autoren ins Deutsche, darunter die von György Konrád und Péter Esterházy. 1999 ist ihm für seine Rolle als Kulturvermittler das Offizierskreuz des Verdienstordens der Republik Ungarn und 2008 das Bundesverdienstkreuz verliehen worden.
Der Lebenslauf auf Hans-Henning Paetzkes Internetpräsenz glänzt durch Andersartigkeit: Verweisung von sämtlichen Gymnasien der DDR, Verbüßung einer Gefängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung, persona non grata in der DDR und in Ungarn – nicht unbedingt das Curriculum Vitae jedenfalls, mit dem man sich für einen Job bewerben würde. „Es ist der Lebenslauf eines renitenten Menschen“, meint er ironisch, als ich ihn darauf anspreche.
Geboren im Zweiten Weltkrieg und aufgewachsen in der DDR hat Hans-Henning Paetzke die schwierigsten Kapitel der deutschen Geschichte – zumindest zum Teil – bewusst miterlebt. Im ostdeutschen Realsozialismus ist es ihm allerdings von vornherein schwer gefallen, sich anzupassen. „In Ostdeutschland haben mich die Lügen um mich herum gestört“, sagt er dazu. Während das Leben der meisten Menschen in der DDR schon vorprogrammiert war, hat er es sich als einer der Wenigen zum Programm gemacht, sich nicht alles erzählen zu lassen.
Blickt er heute auf sein Leben zurück und erzählt Anekdoten aus verschiedenen Stationen in seinem Leben – Jugend in der DDR, Studium und Leben in Ungarn und Westdeutschland-, macht Hans-Henning Paetzke einen ausgeglichenen und zufriedenen Eindruck. Auch wenn kritische Äußerungen und nonkonformes Verhalten ihn einige Male beinahe Kopf und Kragen gekostet haben, ist man sicher, es nicht mit einem Menschen zu tun zu haben, der seine Vergangenheit bereut, etwa verbittert wäre. Im Gegenteil, befreit und ruhig plaudert er darüber. Nachdem er 1963/64 bereits acht Monate wegen Musterungsverweigerung eingesessen hatte, habe er sich trotz der angedrohten Strafe von bis zu sieben Jahren Haft nicht davon abhalten lassen, den Kriegsdienst weiterhin zu verweigern. Wegen angeblicher Fluchtpläne ließ er sich anschwärzen, um nicht mehr in einer Gleisbaubrigade im Tagebau schuften zu müssen. Danach trat er elf Tage in Hungerstreik, um mit Erfolg die Herausgabe seiner Lateinbücher und der Bibel zu erzwingen. Individuelle Lebensläufe wie seinen kann man später nicht mehr nachholen – „Wer ein Feigling gewesen ist, der bleibt in jeder Lebenslage ein Feigling.“
Während die meisten Menschen in der damaligen DDR die Drangsalierungen des Systems über sich ergehen ließen, hat Hans-Henning Paetzke sich quergestellt. Nachdem ihm bereits 1959 wegen angeblicher Massen-Aufwiegelung in einem GST-Ferienlager der Schulverweis angedroht worden war, ist dieser ein Jahr später im Ausschluss von sämtlichen Gymnasien der DDR vollzogen worden, nachdem er sich spöttisch über Walter Ulbrichts „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ geäußert hatte; sein Klassenlehrer hatte ihn deshalb angezeigt. Wenn Hans-Henning Patzke heute über die DDR-Führung redet, dann spricht er von einer „verlogenen Bande“, die dafür verantwortlich war, dass die Menschen nicht „ihr eigenes Leben leben konnten“. Mit der Emigration nach Ungarn 1968 lässt er die ungeliebte Heimat hinter sich und begibt sich in eine kommunistische Operettenwelt, die ihm die Machtstrukturen des Ostblocks im Minimodell erschließt. Seine Jugend in der DDR ist heute dennoch ein wichtiger Teil seines Lebens, der ihn schließlich zu dem gemacht hat, der er heute ist. Ohne die dortige Unterdrückung wäre er auch vielleicht nie nach Ungarn gekommen. Übersetzer wäre er allerdings sicher geworden – die geheimnisumwitterte Welt des Übersetzens hatte ihn schon als Elfjährigen angezogen. Wenn nicht besonders schön, so doch besonders wichtig war diese Zeit für ihn: „Je schrecklicher etwas ist, desto mehr wird deine Persönlichkeit geformt.“ Nachdem er 1973 mit Hilfe eines falschen Passes seinen Wohnsitz nach Frankfurt am Main verlegt hatte, zog es ihn 1994 nach 21 Jahren wieder nach Ungarn. In Deutschland ist er nur noch selten, mit seiner Heimatstadt Leipzig verbindet ihn nicht mehr viel. Sowieso sei „Heimat“ für ihn schon lange kein Land mehr. Heimat, das sei Kultur, Sprache, Arbeit und natürlich die Biographie. Heimat bedeute außerdem nicht, sich zu einer politischen Struktur zu bekennen. Trifft man ihn in seinem Büro, dessen Ordnung allein seiner Frau zu verdanken sei, kann man seine Profession unschwer erahnen: Obwohl es heute nicht leicht ist, ihm anzumerken, dass er nicht ungarischer Muttersprachler ist, gehören Wörterbücher und Lexika selbstverständlich zu seinem wichtigsten Arbeitswerkzeug. Rund 80 Werke ungarischer Autoren hat er mittlerweile ins Deutsche übersetzt. Ob er auch Werke deutscher Autoren ins Ungarische übersetzt? Er verneint. Die Zielsprache sollte beim Übersetzen immer einem Muttersprachler vorbehalten bleiben.
Hans-Henning Paetzke gebührt der ihm nicht streitig zu machende Verdienst, eine ganze Reihe von Autoren im deutschen Sprachraum eingeführt zu haben, unter diesen Péter Esterházy, György Petri, János Pilinsky, Zsófia Balla, Krisztina Tóth und Géza Szőcs. Neben seinen Prosaübersetzungen hat er im Laufe der Jahre auch sechs Lyrikbänder übertragen und herausgegeben.
Ausschlaggebend ist für ihn beim Übersetzen vor allem die Textqualität. Es sollte insbesondere eine persönliche Affinität zum Autor oder seinem Werk bestehen, schließlich beschreibt er das Übersetzen auch als eine Art Liebesbeziehung: Es gibt einen Anfang, einen Höhepunkt, allerdings auch meistens ein Ende. Nicht selten ist es passiert, dass er Autoren nach einiger Zeit wieder „abgegeben“ hat. Anderen Autoren ist er allerdings bis heute treu geblieben. So zum Beispiel György Konrád. Seit mehr als 35 Jahren übersetzt er mittlerweile für den Schriftsteller aus Debrecen, mit dem ihn allmählich eine lebenslange Freundschaft verbindet. Dieser hatte ihn 1976 kontaktiert und ihn um die Übersetzung eines „kleinen Essays“ mit dem Titel „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ gebeten. Paetzke hatte angenommen und das in miserabler Qualität vorliegende, von Mikrofilm vergrößerte und fotokopierte 500-Seiten-Manuskript akribisch ins Deutsche übertragen. Das Werk hatte für Paetzke einen besonderen Reiz und Wert: In Ungarn war es als staatsfeindliche Hetze verboten und damit Schmuggelware.
Damals musste Paetzke den Verlagen noch selbst Angebote unterbreiten, ungarische Autoren anpreisen, um an Aufträge zu kommen, nachdem er erkannt hatte, dass es in diesem Metier einer Menge Eigeninitiative bedurfte. Besonders nachdem ungarische Literatur nach einer auf die Revolution von 1956 folgenden Scheinblüte wegen mangelnden Absatzes nicht mehr gefragt war, musste Paetzke die Verlage durch viel Überzeugungsarbeit für die jüngeren ungarischen Autoren gewinnen.
Heute übersetzt Hans-Henning Paetzke nicht nur verschiedenste Textarten, er wird auch immer öfter selbst als Autor aktiv. In der deutschsprachigen Spex hat er erst kürzlich den Artikel „Ungarn: Das Märchen von der Nation“ veröffentlicht – das Interesse an den politischen Entwicklungen in Ungarn steigt besonders in Deutschland, Paetzke informiert alarmierend mit Rückgriff auf tiefgehendes geschichtliches Wissen aus Ungarn; ebenfalls in den vergangenen Wochen erschienen ist ein Beitrag im Stacheldraht, eine von der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft herausgegebene Informationszeitschrift. Seit 2004 tritt Paetzke schließlich auch als Romanautor auf den Plan. In einer Trilogie sind seine Romane mit dem Übertitel „Blendwerk“ erschienen. Der Protagonist heißt Leo Kleinschmidt, ist in der DDR aufgewachsen, dort unliebsam geworden, nach Ungarn ausgewandert. Schnell fällt auf: Die Werke haben stark autobiographischen Charakter. Leo Kleinschmidt sollte nicht mit dem Autor verwechselt werden, auch wenn er weitgehend mit diesem identisch ist. Wer möchte, dem eröffnet sich hiermit die Möglichkeit, in das Leben des Autors einzutauchen, seinen Lebensweg nachzuvollziehen und gegebenenfalls auch Anknüpfungspunkte an das eigene Leben zu finden. 1945 infolge eines Granatwerferangriffs der Amerikaner verschüttet und nach anfänglichen Sprechversuchen bis zu seinem fünften Lebensjahr verstummt, sich nur durch Zeichensprache verständigend, scheint Paetzke sich geschworen zu haben, nie mehr stumm bleiben zu wollen und den Stummen ein Denk- und Sprachvermittler zu sein.