Wer Bruce Anthony Marshall kennenlernt, dem wird schnell klar, dass er es nicht mit einem gewöhnlichen Diskjockey zu tun hat. Er ist Music Selector, Organic DJ und, vor allen Dingen, Music Sommelier. Der Sommelier – ein Weinkenner? Auch wenn Marshalls Berufswege ihn oft in Restaurants und Bars führen, so ist es nicht die Weinlese, sondern die musikalische Auslese, die er sich zum Beruf gemacht hat. Der aus Washington DC stammende Marshall ist momentan der Conceptual Entertainment Director, der Intendant für Konzeptionelles Entertainment, und Resident Music Sommelier in der Innio Wine Bar, dem Trafiq, der BOB Original Bacardi Bar und dem Kempinski Hotel Corvinus.
Es war im Januar 2004, als Bruce Anthony Marshall zum ersten Mal mit zwei Freunden nach Budapest kam. Während er von der Vergangenheit erzählt, lässt er seinen Blick schweifen, kehrt jedoch bei jeder Konklusion wieder zu seinem Gegenüber zurück, als wolle er mit seinen lebhaften, wachen Augen zur Sicherheit das Hier und Jetzt markieren. „Ich lebte vorher in Los Angeles und arbeitete in der TV- und Filmindustrie. Aber manchmal will man eben einfach etwas ändern“. Marshall war unter anderem schon in Rom, London und Bangkok beheimatet, doch er habe nach Europa zurückkommen und diesmal ganz im Zentrum sein wollen. „Und wenn man sich mal die Landkarte anschaut, ist Ungarn ja im Grunde mittendrin in Europa“, fügt er schmunzelnd hinzu. Besiegelt wurde der Entschluss von seinem Geldgewinn bei der US-amerikanischen Version von „Wer wird Millionär?“: „Ich wollte ja ohnehin kommen, und mit dem Geldsegen gab es dann kein Zurück mehr.“
Im April 2004 stand Ungarns EU-Beitritt bevor. „Ich wollte weiterhin in der Film- und Fernsehindustrie arbeiten“, erzählt Marshall, „und dachte, dass es zu dieser Zeit und aufgrund der Vergangenheit Budapests im Film leichter möglich sein würde.“
„Was zum Teufel ist ein Music Sommelier?“
Dass der Plan nicht aufging, ist ihm im weiteren Verlauf zum erfreulichen Verhängnis geworden. Durch neu geschlossene Freundschaften verschlug es Marshall in die Gastro-Szene, wo man ihn immer häufiger bat, seinen erlesenen privaten Musikgeschmack mit der Öffentlichkeit zu teilen – etwas, woran er vorher noch nie gedacht hatte. „Die Rückmeldungen waren positiv, doch leider waren die Leute damals noch nicht bereit, für so einen Service auch zu zahlen. Das ganze Konzept des Music Sommelier stieß auf Unverständnis. Da hieß es, ‚wir wissen, was ein DJ ist, aber was zum Teufel ist ein Music Sommelier?‘“, erzählt Marshall, die damaligen Skeptiker nachahmend.
Die Musik, die Marshall damals im ungarischen Radio hörte, empfand er als heilloses Durcheinander, als „Crazy Jukebox“: „Es wurde einfach alles gespielt, und nichts war nach Genre sortiert. Also begann ich, etwas Ordnung ins Chaos zu bringen und startete meine eigene thematische Radiosendung auf Radio Q namens The Bitching Hour.“ Im Radio gab Marshall dem Ganzen eine klarere Form und sprach unter seinem Pseudonym BudapestBrown über Genre wie Classic Soul, Neo Soul, Disco und Funk.
Ähnlich kategorisch gedacht, zieht Marshall als Music Sommelier Inspiration aus dem Wetter, dem Raum, in dem er sich befindet und ist auch jederzeit auf Änderungen gefasst: „Insbesondere im Fünften Bezirk, wo sich viele Touristen rumtreiben, musst du auch wissen, was du spielst, wenn eine Busladung sechzigjähriger Damen hereinspaziert. Zum Beispiel etwas Klassisches, Nostalgisches.“ Es gehe bei ihm ohnehin sehr um das Gefühl von Nostalgie und Erinnerung. Das könne durchaus auch wehtun, wenn man sich bestimmte Musiken anhöre und sich danach sehnte, was früher war. „So geht es mir zum Beispiel mit Disco Musik aus den Siebzigern, mit Saturday Night Fever. Obwohl ich zu den Zeiten von Studio 54 noch nicht alt genug war, kann ich diese Gefühle von damals wiedereinfangen, wenn ich die Musik höre. Und ich liebe es, das zu tun!“
Musikalische Konzeptarbeit
Als Music Sommelier geht es Marshall weniger um Nachtclubs, Diskotheken und Partys, sondern vielmehr darum, was auch ein Sommelier mit Weinen tut: Er wählt aus, welcher Wein zu welchem Gericht und zu welcher Gelegenheit passt. „Wenn man das auch mit Musik macht, präpariert man nicht nur das Hintergründige, sondern die ganze Atmosphäre“, meint Marshall. „Und nur so hört man der Musik wirklich zu.“
Im Kempinski Hotel Corvinus erhielt Marshall die Möglichkeit, das ganze Hotel mithilfe seines musikalisch-konzeptionellen Vorstellungsvermögens auszustatten. Anhand der von Marshall ausgewählten Musik erhalten Restaurant, Wohnzimmer, Bar, Fahrstuhl und Spa so jeweils ein anderes atmosphärisches Gefühl. „Das ist wirklich ein toller Gig, denn ich kann das Konzept alle drei Monate ändern. Man hat im Kempinski Hotel Corvinus wirklich verstanden, wie sehr Musik den ganzen Eindruck verändert. Und da ich mit diesem Kempinski Hotel zusammenarbeite, kann ich quasi auch auf Kempinski-Tour gehen und diese Klanglandschaften auch in anderen Hotels schaffen, sodass mir das geliebte Reisen immer noch erhalten bleibt.“
Neben den Restaurants, Bars und Hotels ist Marshall jedoch auch für Privatpersonen tätig: „Gerade am vergangenen Wochenende hatte ich einen Auftritt bei einem ungarischen Paar, das mich über das Kempinski entdeckt hatte. Die beiden haben auf Bali geheiratet, dies ihren Freunden jedoch nicht erzählt. Ich sollte dann auf ihrer Geburtstagsparty draußen auf dem Land auflegen, in einem Weinanbaugebiet, und wurde also Zeuge von einer Geburtstagsparty, die plötzlich – nach der großen Verkündung – zur Hochzeitsparty umschwenkte. Das war großartig! Auch die Zusammenarbeit mit den beiden klappte sehr gut. Sie schickten mir im Vorhinein eine kleine Liste mit zehn ungarischen Liedern zu, die sie unbedingt hören wollten, den Rest erledigte ich. Ich mag diese Art von Austausch.“
Durch seine Reisen hat Marshall in den vergangenen Jahren auch viele exotische Lieder angesammelt und sich somit quasi ein interkulturelles Musik-Archiv aufgebaut: „Wenn ich beispielsweise meinen Freunden in New York ungarische Lieder zeige, finden sie es immer toll. Sie wissen zwar nicht, was gesungen wird, aber sie nehmen trotzdem das Gefühl von diesem fremden Ort auf. Und genau das ist Musik für mich: Die beste universelle Sprache, die es geben kann.“
Bei so viel Gefühl und musikalischer Bedachtheit ist schnell klar, dass Bruce Anthony Marshall nicht der richtige Ansprechpartner für monotone Techno-Beats ist. Welche Musik ist es also, die den Musik Sommelier anzieht? Bei der Antwort muss Marshall nicht lang überlegen: „Es ist ein Retro Cocktail. Alles, was in den späten fünziger und frühen sechziger Jahren los war, dieses Cocktail-Feeling aus der Serie Mad Men, das gefällt mir. Und ich denke, dass es die Art von Musik ist, die deine Nacht erst so richtig los gehen lässt.“ In diesem Bereich hat sich Marshall eine Nische geschaffen. Es ist die Tageszeit, wenn die Sonne langsam untergeht, aber noch nicht die Zeit für die große Party gekommen ist. Es ist die Musik zum Abendessen, zum Aufwärmen. Und es ist genau die Musik, mit der er aufgewachsen ist. Manchmal ist es jedoch auch das Visuelle an Musik, das Marshall anspricht: „Oft wähle ich Musik einfach nach ihrem Album-Cover aus. Ich scheine dafür ein Händchen zu haben, da ich ja sehr lang bei Film und Fernsehen gearbeitet und mich auch mit Mode beschäftigt habe. Deshalb verstehe ich die Bildsprache ganz gut. Wer aussieht, wie eine koreanische Britney Spears wird sich höchstwahrscheinlich genau so anhören.“
Die Zuhörer auf eine Reise mitnehmen
Welche Musik Marshall auch wählt, um einen Abend zu gestalten, so ist doch eines sicher: Beim Music Sommelier ist kein Abend wie der andere. Marshall beobachtet die Menschen und sieht sich sein Publikum genau an. Was an einem Abend eine Busladung Sechzigjähriger ist, kann am nächsten eine große Gruppe Franzosen sein, die er dann mit einem französischen Set überrascht. „Ich sehe es als meine Aufgabe, meine Zuhörer mitzunehmen auf eine Reise, sie durch die Musik an verschiedene Orte zu bringen. Auf die Art gleichen sich meine Sets nie und weder mein Publikum noch ich fühlen sich gelangweilt.“
Langeweile kann auch deshalb nicht aufkommen, weil Marshalls Auftritte auch performativ ein Erlebnis sind. So kann es vorkommen, dass der Musik Sommelier bei einem Country-orientierten Set seinen Cowboy-Hut aufsetzt oder die Mitarbeiter einer Bar zur lateinamerikanischen Nacht darum bittet, statt Erdnüssen frittierte Kochbananen als Snack anzubieten: „Ich finde, es sollte duften, aussehen und sich anhören, wie es das Thema des Abends es empfiehlt. Nur so kann man das Publikum wirklich für einen Moment mit an einen anderen Ort nehmen.“
Bei Marshalls ganzheitlicher und konzeptueller Arbeitsweise ist es nicht verwunderlich, dass er sich für die Zukunft wünscht, sein eigenes Restaurant zu eröffnen und darin Gaumenschmauß und Ohrenfreuden zu verbinden. Ein American Soulfood-Restaurant soll es werden. Und wir freuen uns drauf.
Lisa Weil
Bruce Anthony Marshall – The Music Sommelier
Kontakt und Buchung über
www.themusicselector.com